IV, 2021/3

Alessio Fornasin, Claudio Lorenzini (eds.)

Via dalla montagna

Review by: Michael Wedekind

Editors: Alessio Fornasin, Claudio Lorenzini
Title: Via dalla montagna. «Lo spopolamento montano in Italia» (1932-1938) e la ricerca sull'area friulana di Michele Gortani e Giacomo Pittoni
Place: Udine
Publisher: Forum Editrice
Year: 2019
ISBN: 9788832830620
URL: link to the title

Reviewer Michael Wedekind - Zentralinstitut für Kunstgeschichte, Monaco di Baviera

Citation
M. Wedekind, review of Alessio Fornasin, Claudio Lorenzini (eds.), Via dalla montagna. «Lo spopolamento montano in Italia» (1932-1938) e la ricerca sull'area friulana di Michele Gortani e Giacomo Pittoni, Udine, Forum Editrice, 2019, in: ARO, IV, 2021, 3, URL https://aro-isig.fbk.eu/issues/2021/3/via-dalla-montagna-michael-wedekind/

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Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts verzeichneten nahezu alle Gebirgszüge Europas massive migrationsbedingte Bevölkerungsverluste. In deren Etikettierung mit Begriffen wie «Bergflucht» und «Gebirgsentvölkerung» artikulierte sich die Furcht der Zeitgenossen vor den vermeintlichen Folgen: vor Urbanisierung und dem Wandel gesellschaftlich-kultureller Grundwerte. Angesichts neuerlicher demografischer Verluste der Berglandregionen in den 1920er Jahren wurden in der Schweiz und Italien Expertenkommissionen mit dem Problem befasst. Sie untersuchten dessen Ursachen und entwickelten Strategien für eine Trendumkehr und für die Wiederbelebung der offenbar im Untergang begriffenen bergbäuerlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsformen.

Die sechzehn Beiträge des vorliegenden Sammelbandes beleuchten die Entsiedlung von Alpen und Apennin sowie die Erforschung und Steuerung dieses Prozesses im faschistischen Italien. Im Mittelpunkt stehen die Arbeiten und Publikationen der 1929 eingesetzten Enquêtekommission, deren Leitung zwei kurz zuvor vom Regime gegründete Institutionen übernahmen: der Italienische Forschungsrat (Consiglio Nazionale delle Ricerche) sowie das anwendungswissenschaftlich orientierte Landesinstitut für Agrarwirtschaft (Istituto nazionale di economia agraria), das weniger demografisch-statistisch-quantitative als vielmehr qualitative agrosoziologische Wissens- und Verfahrensgrundlagen für die angestrebte Reruralisierung der Gesellschaft bereitstellen sollte. Auch die multidisziplinäre, überwiegend jedoch aus Geografen zusammengesetzte Enquêtekommission untersuchte die Entsiedlungstendenzen primär unter ökonomischen, siedlungsgeografischen und umweltlichen Aspekten.

Der von den Historikern Alessio Fornasin und Claudio Lorenzini von der Universität Udine herausgegebene Sammelband geht auf eine 2016 durchgeführte Tagung in Tolmezzo im nordostitalienischen Friaul zurück. Dessen Gebirgsräume und die hierzu publizierte Teilstudie der Enquête sind Gegenstand der regionalgeschichtlichen zweiten Sektion des Werkes, während in dessen erstem Abschnitt eine Verortung des Gesamtforschungsvorhabens vorgenommen wird.

Die Gebirgsentsiedlung und ihre demografischen, sozio-ökonomischen, ökologischen und kulturellen Implikationen berührten mit der Frage von Reruralisierung und Antiurbanismus Kernvorstellungen faschistischer Sozialordnung. Angesichts von Industrialisierung und Verstädterung unterlag ihnen nicht nur in Italien der Glaube an die Bewahrung konservativer gesellschaftspolitischer Wertvorstellungen, die man in der Agrargesellschaft verankert sah. Für die Stabilisierung des Sozialgefüges hielten Experten einen Anteil von mindestens 40 Prozent landwirtschaftlich Beschäftigter für unverzichtbar.

Die wissenschaftlich hochstehenden Enquêtestudien erwiesen jedoch zumeist, dass die demografischen Verluste der Berglandregionen durch die faschistische Politik der Reruralisierung und des Pronatalismus eher forciert wurden. Eine Steuerung des Wanderungsprozesses erschien zwar über ökonomisch-fiskalische Maßnahmen möglich, jedoch oft nicht erstrebenswert, da Saisonmigrationen und Abwanderungen für ein Gleichgewicht von Ressourcen und Bevölkerung sorgten. Die Ursachen der Gebirgsentsiedlung sah man nicht pauschal in einem vermeintlich geschlossenen Wirtschaftssystem der Hochländer, das nach verbreiteter Vorstellung im 19. und 20. Jahrhundert unter dem Einfluss technisch-wirtschaftlicher und sozio-kultureller Evolutionen in den Tiefländern stark erschüttert worden sei. Damit nahmen die Untersuchungen sozialgeschichtliche Forschungsergebnisse der 1980er und 90er Jahre speziell zum westlichen Alpenraum vorweg.

Der Sammelband, der die Tagungsreferate sowie einige ergänzende Beiträge enthält, unterrichtet verlässlich und ausgewogen über die hier erstmals umfassend analysierte Frage der Gebirgsentsiedlung als Gegenstand faschistischer Sozial-, Bevölkerungs- und Wirtschaftsplanung. Die Artikel sind klar strukturiert, profund recherchiert, mit umfangreichen Schrifttumshinweisen versehen und durchweg angenehm lesbar.

Man hätte es dem Band freilich als weiteren Gewinn anrechnen können, hätten Verfasser und Herausgeber eine breitere Einordnung der Thematik vorgenommen. Insonderheit ist an die (immer noch unzulänglich untersuchten) Beziehungen zwischen Wissenschaft und Politik im faschistischen Italien zu denken. Dieser Aspekt wird zwar bisweilen gestreift und an einem Einzelfall exemplifiziert, doch wäre dessen Kontextualisierung nützlich, eine weitergehende Analyse der beteiligten Wissenschaftsmilieus eine wertvolle Perspektiverweiterung gewesen. Unerwähnt bleibt ferner, dass die überwiegend qualitative Bevölkerungsforschung zur italienischen Gebirgsentsiedlung zeitlich, institutionell und teilweise personell in enger Beziehung zu einer Vielzahl weiterer Enquêten stand und zudem parallel von anderer Seite agrar- und ethnopolitische Strategiepapiere sowie medizinisch-genetische Feldforschungsergebnisse vorgelegt wurden. Damit stand ein umfangreiches soziotechnisch relevantes Wissen zur Verfügung, dessen Nutzung im Rahmen faschistischer Sozial- und Bevölkerungsplanung bisher nicht untersucht worden ist. Dies hat unverändert auch für den thematischen Detailbereich des vorliegenden Bandes zu gelten: Es bleibt undeutlich, welchen politikleitenden Niederschlag die Bereitstellung anwendungsorientierten Herrschaftswissens durch die Enquête hatte, deren Experten in ihren Sachauffassungen und Erhebungsergebnissen nicht selten von den ideologiegeleiteten Handlungsstrategien der Regimespitze abwichen, ohne dabei jedoch eine offen kritische Haltung einzunehmen.

Auch eine zweite Positionsbestimmung erscheint gewinnbringend: Agrar- und Regionalforschungen erlebten in den 1920er und 30er Jahren international einen Aufschwung. Hingewiesen sei nur auf die Enquêten im nationalsozialistischen Deutschland sowie auf die Untersuchungen Ferdinand Ulmers zur Gebirgsentsiedlung Deutschtirols (1935) bzw. zur Bergbauernfrage (1941). Wie bereits die verdienstvolle Monografie Gerhard Siegls zu Bergbauern im Nationalsozialismus (Innsbruck, 2013), so verzichten auch die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes auf einen Blick über die (Sprach-)Grenze und auf die Perzeption benachbarter Wissenschaftslandschaften. Dabei hätten Vergleichsstudien Spezifika und Unterschiede in der Auffassung von Rolle und Stellung von Landwirtschaft, Landbevölkerung und Bergbauern in benachbarten Räumen und ideologieverwandten Systemen herauszuarbeiten und die weitgehend fehlende rassisch-biologische Komponente in der faschistischen Agrarideologie herauszustellen vermocht.

Hier mögen Ansatzpunkte für nachfolgende Untersuchungen liegen. Sie werden sich mit dem 2020 von der Stiftung Dolomiten UNESCO (Leggimontagna) prämierten Sammelband von Alessio Fornasin und Claudio Lorenzini auf sehr solider Wissensgrundlage bewegen können. Auf Grund seiner beachtenswerten Impulse zur Agrar-, Sozial-, Bevölkerungs- und Wissenschaftsgeschichte ist dem Buch eine breite und eben auch internationale Beachtung zu wünschen.

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