VI, 2023/2

Magnus Ressel

Protestantische Händlernetze im langen 18. Jahrhundert

Review by: Nicolai Kölmel

Authors: Magnus Ressel
Title: Protestantische Händlernetze im langen 18. Jahrhundert. Die deutschen Kaufmannsgruppierungen und ihre Korporationen in Venedig und Livorno von 1648 bis 1806
Place: Göttingen
Publisher: Vandenhoeck & Ruprecht
Year: 2021
ISBN: 9783525363294
URL: link to the title

Reviewer Nicolai Kölmel - Universität Basel

Citation
N. Kölmel, review of Magnus Ressel, Protestantische Händlernetze im langen 18. Jahrhundert. Die deutschen Kaufmannsgruppierungen und ihre Korporationen in Venedig und Livorno von 1648 bis 1806, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 2021, in: ARO, VI, 2023, 2, URL https://aro-isig.fbk.eu/issues/2023/2/protestantische-handlernetze-im-langen-18-jahrhundert-nicolai-kolmel/

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Der Fondaco dei Tedeschi – das Handelshaus der Deutschen in Venedig – ist ein Gebäude mit einer eindrücklichen Vergangenheit. Im 13. Jahrhundert am Canal Grande errichtet, beherbergte es bis über das Ende der Markusrepublik hinaus die Korporation deutscher Händler in der Lagunenstadt. Nach einer zwischenzeitlichen Nutzung als Hauptpostamt, wurde das Gebäude vor rund zehn Jahren renoviert, umgebaut und 2016 als Luxus-Einkaufszentrum wiedereröffnet. Auf dessen Webseite wird verschiedentlich versucht, diese Neunutzung als Fortschreibung der Geschichte des Handelshauses der nazione alemana zu vermarkten. Dabei ist die Geschichte des Fondaco und seiner deutschen Kaufleute bislang alles andere als gut erforscht. Vor allem die Zeit seit dem 17. Jahrhundert wurde in der Literatur bislang eher stiefmütterlich behandelt. Der Fortbestand der Institution in der frühen Neuzeit galt meist als mittelalterlicher Anachronismus und wurde in Narrative einer seit der Renaissance zunehmend erstarrenden Markusrepublik eingebettet. Der Fondaco als Handelshaus der deutschen Kaufleute in Venedig galt dabei vor allem als Symptom des doppelten (wirtschaftlichen) Niedergangs, der spätestens ab dem 17. Jahrhundert gleichermaßen Venedig wie die oberdeutschen Reichsstädte betroffen habe. Markus Ressel nimmt in seiner wirtschaftskulturgeschichtlichen Analyse zu Handelsstrukturen und -verbindungen zwischen Oberitalien (besonders Venedig) und Oberdeutschland eine quellenreiche Neubewertung der Geschichte des Fondacos und der Händlernetze der dort angesiedelten Kaufleute vor. Für die Zeitspanne zwischen Westfälischem Frieden und napoleonischer Kontinentalsperre kommt er dabei zu zahlreichen, innovativen und aufschlussreichen Ergebnissen.

Hierfür spannt der Autor den Analyserahmen seiner Untersuchung beeindruckend weit. Denn die im Buchtitel prominent aufgerufenen protestantischen Händlernetze werden im Wesentlichen erst nach über 350 Seiten, im dritten Großkapitel des Buches, unter die Lupe genommen. Zuvor geht es, nach einem einleitenden Teil zu Problemexposition, Forschungslage und Methodendiskussion zunächst um die strukturellen Voraussetzungen und Veränderungen, in welchen die Kaufleute agierten und in denen sie ihre Händlernetze knüpften. Ähnlich einem filmischen zoom-in wird dafür im ersten Teil zunächst mit minimaler Brennweite ein Panorama der Nutzung der Alpentransitrouten gegeben. Vor allem die vier Hauptstrecken über Tiroler und Bündner Pässe, über den Gotthard und über die Tauern-Route werden in Konkurrenz zum Seehandel in ihrer Anziehungskraft für den süddeutschen Warentransfer betrachtet und als Instrument handels- und zollpolitischer Interventionen der Anrainerstaaten analysiert.

Das zweite Großkapitel nimmt dann mit mittlerer Brennweite die Rolle kooperativer Organisationen im deutsch-italienischen Handel und ihr politisches Agieren bis ca. 1800 in den Blick. Der Fondaco steht hier erstmals im Mittelpunkt. Dabei geht es vor allem um das (zoll)politische Handeln Venedigs, um die im Zuge dessen den deutschen Kaufleuten von venezianischer Seite eingeräumten Privilegien und um das Bemühen dieser Kaufleute, das Ausweiten dieser Privilegien auf andere Händler zu verhindern. Ressel kann – auch im Kontrast zu den von ihm ebenfalls analysierten deutsch-niederländischen Händlerkooperationen in Livorno – zeigen, dass sich für Venedig (und gegen den ökonomischen Trend einer Liberalisierung der Märkte und Häfen) die fortgesetzte und einseitige Bevorzugung der deutschen Kaufleute des Fondacos durchaus lohnte. Das venezianische Privilegienpaket von 1675 – als Nukleus dieser Maßnahme – ermöglichte der Lagunenstadt, das nordalpine Hinterland für lange Zeit wirtschaftspolitisch an den eigenen Hafen zu binden und so dessen Attraktivität zu sichern. Die Auswertung eines zwischen 1647-1682 im Fondaco geführten Protokollbuchs zeigt (gemeinsam mit anderen Quellen), wie beharrlich die nazione alemana zeitgleich durch Einfluss auf venezianische Entscheidungsgremien und -träger (sowohl durch Argumente wie durch Bestechung) um diese Privilegien kämpfte und wie nachdrücklich sie zugleich andere Händlergruppen (Grissolotti, Niederländer, Juden und Niederdeutsche) vom Zugang zum Fondaco und dessen Vergünstigungen auszuschließen suchte.

Das dritte Großkapitel schließlich, fokussiert dann mit höchster Brennweite auf einzelne Personen. Ein wichtiges Ergebnis dieser mikroperspektivischen Kleinstudien sind die Beobachtungen zu den sich im 18. Jahrhundert ändernden Handlungspraktiken der über den Fondaco agierenden Kaufleute. Der ab 1680 einsetzende Aufschwung des transalpinen Warenhandels führte zunächst zu einer Anziehung vieler, vorwiegend kapitalschwacher Händler aus Süddeutschland. In den Folgejahren bildete am Fondaco dann eine finanzkräftige Elite aus, die sich zunehmend auch in Wechselgeschäften und Seehandel engagierte. Viele dieser Kaufleute ließen sich dauerhaft in Venedig nieder und begründeten so einflussreiche Händlerfamilien und -dynastien. Originell ist, dass Ressel es nicht bei der Beobachtung dieses wirtschaftlichen Prozesses belässt, sondern diesen mit dem Aufkommen des Pietismus in der Lagunenstadt verbindet. Detailliert zeichnet Ressel anhand der Auseinandersetzungen um die (nach venezianischem Recht illegalen) Berufungen von Predigern für den Fondaco die Konjunkturen von orthodoxem Luthertum und Pietismus im Handelshaus nach. Aufschlussreich sind dabei weniger die Spekulationen darüber, weshalb diese Reformbewegung innerhalb des Luthertums eine so große Anziehungskraft auf die deutschen Kaufleute in Venedig entwickelte, als vielmehr die Analyse, wie diese protestantische Frömmigkeitsbewegung in der Vergesellschaftung der Händler untereinander (und in Rückkopplung mit Familien in süddeutschen Reichsstädten) wirksam wurde.

Die umfangreiche Studie erschließt eine enorm eindrückliche Vielzahl an Quellen aus deutschen, italienischen, österreichischen und schweizerischen Archiven, wartet mit zahlreichen Ergebnissen auf, welche bisherige Forschungsannahmen zu revidieren vermögen und zeigt sich in ihrer Argumentation methodisch und analytisch überaus reflektiert und gründlich. Zudem wird der Text von einem Orts- Namens- und Sachregister ergänzt und stellt durch Anhänge, mit Tabellen und Namenslisten zu Mitgliedern, Lehrlingen oder Consuln der deutschen Nation in Venedig der künftigen Forschung aufschlussreiches Material zur Verfügung.

Dass das Buch trotz der an sich sehr leserlichen Sprache bisweilen etwas sperrig daherkommt, hat weniger mit seiner Länge (insgesamt fast 700 Seiten) zu tun als vielmehr mit seiner bisweilen überstrukturierten Gliederung. Besonders der Hang des Autors sein Material in unterschiedliche Phasen einzuteilen, seine Darstellung entlang diesen zu betiteln und strikt chronologisch zu ordnen, führt nicht immer zu mehr Übersichtlichkeit (z.B. III. 2. b. Die Verteidigung der Privilegien (1654-1670)III. 2. c. Die massive Privilegierung (1671–1682)). Auch die den Unterkapiteln jeweils systematisch nachgeschaltete Zusammenfassung macht das Lesen des Buches als Gesamtwerk mitunter schwerfällig. Durch das sehr quellennahe und behutsam deskriptive Vorgehen in den Unterkapiteln sind diese Zwischenresümees – trotz mancher Redundanz – zur Ergebnissicherung aber zweifellos notwendig. Man hätte sich daher bisweilen eine größere Verzahnung und Synthetisierung von Material und Analyse gewünscht. Ähnliches gilt mit Abstrichen auch für die Aufteilung des Buches in die drei Großkapitel. So reizvoll und ansprechend das an ältere Arbeiten der Annales Schule erinnernde einzoomen aus der Makro- in die Mikroperspektive ist, wäre im zweiten und vor allem im dritten Großkapitel eine etwas stärkere Rückbindung und Verflechtung mit den Strukturanalysen aus den aus dem ersten Großkapitel durchaus wünschenswert gewesen. Der klar gegliederte Aufbau der Studie und die chronologische Präsentation des Materials, sind für das Nachschlagen einzelner Aspekte allerdings überaus nützlich. Es liegt nahe, dass das Buch daher weniger als homogene Geschichtserzählung konzipiert wurde, denn als Referenzwerk für künftige Forschung zu Fondaco Transalpenhandel und Händlernetzen; eine Funktion die dem Werk zweifelslos zukommen wird.

Markus Ressels ist mit seiner Frankfurter Habilitationsschrift eine vielschichtige und beeindruckende Studie gelungen. Sie bietet einen detaillierten Einblick in die Zollpolitik der Alpenanrainerstaaten, den fiskalpolitischen Umgang Venedigs und Livornos mit deutschen Kaufmannskorporationen und analysiert kenntnisreich deren Stellung und handelspolitische Aktivitäten. Die Analyse der Anbindung der Kaufleute im Fondaco dei Tedeschi an die oberdeutschen Reichsstädte und vor allem der Blick auf die wirtschaftskulturelle Bedeutung der sich um 1700 ausbildenden pietistischen Händlernetze hält für eine europäische Handels- und Konfessionsgeschichte zahlreiche Impulse parat. Ob der Erfolg der (anachronistischen) Privilegienpolitik Venedigs im langen 18. Jahrhundert allerdings von Seiten des heute im Fondaco angesiedelten Luxuskaufhauses für seinen, sich an reiche Tourist:innen richtenden Internetauftritt genutzt werden wird, darf bezweifelt werden.

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