V, 2022/3

Jacques Sémelin

Ohne Waffen gegen Hitler

Review by: Pascal Oswald

Authors: Jacques Sémelin
Title: Ohne Waffen gegen Hitler. Eine Studie zum zivilen Widerstand in Europa
Place: Göttingen
Publisher: Wallstein Verlag
Year: 2021
ISBN: 9783835339088
URL: link to the title

Reviewer Pascal Oswald - Universität des Saarlandes

Citation
P. Oswald, review of Jacques Sémelin, Ohne Waffen gegen Hitler. Eine Studie zum zivilen Widerstand in Europa, Göttingen, Wallstein, 2021, in: ARO, V, 2022, 3, URL https://aro-isig.fbk.eu/issues/2022/3/ohne-waffen-gegen-hitler-pascal-oswald/

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Die lauten, lärmenden Ereignisse der Geschichte ziehen gewöhnlich zuerst die Aufmerksamkeit der Historiker auf sich, während es in der Regel länger dauert, bis sich das Augenmerk auf die unscheinbaren, schwieriger greifbaren Aktionen richtet. So konzentrierte sich die Resistenza-Forschung lange auf den militärischen Widerstand der Partisanenbewegung und die Rolle der politischen Parteien. Erst in den 1980er-Jahren erschienen Pionierarbeiten zur «Resistenza disarmata». Eine Vielzahl jüngerer Spezialstudien erlaubte es Ercole Ongaro, 2013 erstmals eine Geschichte der Resistenza nonviolenta 1943-1945 auf gesamtitalienischer Ebene vorzulegen. Dabei blieb Kritik an seinem weitgefassten Verständnis von «Resistenza civile», unter der er etwa auch die Hilfeleistungen gegenüber den fliehenden Soldaten im Kontext des 8. September 1943, die Wehrdienstverweigerer oder die Militärinternierten subsummierte, nicht aus: laut Paolo Pezzino vermischt Ongaro Aktionen, die tatsächlich zivilen Widerstand darstellten, mit individuellen Handlungen, die besser als dissidentes Verhalten charakterisiert werden sollten[1].

Vor dem Hintergrund dieser italienischen Debatten ist es hilfreich, den Autor erneut zu lesen, der den zivilen Widerstand als historiographische Kategorie etabliert hat: Jacques Sémelins 1989 in französischer Sprache erschienenes Ohne Waffen gegen Hitler gilt heutzutage als Standardwerk. Das bereits 1995 in deutscher Übersetzung erschienene Buch ist 2021 in einer überarbeiteten Neuauflage erschienen, die sich auf eine französische Fassung von 2013 stützt und unter anderem eine neue Schlussbetrachtung enthält. Ohne Waffen gegen Hitler bot keine originäre Forschung im eigentlichen geschichtswissenschaftlichen Sinn, indem es neue Dokumente auswertete, sondern untersuchte auf Basis zahlreicher vorangegangener Spezialstudien erstmals das Phänomen des zivilen Widerstands in Europa während der Kriegsjahre 1939-1943, mit einem geographischen Schwerpunkt auf Westeuropa. In methodologischer Hinsicht verbindet die Arbeit Elemente der Geschichtswissenschaft, Politikwissenschaft und Soziologie: Ihr Ziel besteht darin, durch eine komparative Analyse historischer Fallbeispiele eine Gesamtschau auf das Phänomen des zivilen Widerstands zu geben, seine Hauptprobleme und grundlegenden Parameter zu umreißen.

Vor Sémelin hatten bereits Jorgen Haestrup (1981) und François Bédarida (1985) den Begriff des «zivilen Widerstands gebraucht», ohne ihm jedoch wie Sémelin das nötige theoretische Fundament zu verleihen. Tatsächlich wird nach Sémelin Widerstand «gemeinschaftlich vollzogen» (S. 48); wie Pezzino hält er für individuelle Aktionen hingegen den im Übrigen auch von Ian Kershaw in der NS-Forschung verwendeten Begriff des dissidenten Verhaltens für treffender. «Zivilen Widerstand» definiert Sémelin knapp als «spontanen und unbewaffneten Kampf einer zivilen Gesellschaft gegen einen äußeren Aggressor» (S. 53). Da er es jedoch für nicht ausreichend hält, den zivilen Widerstand allein über seine Mittel zu definieren, arbeitet Sémelin eine präzisere Definition auch hinsichtlich der Akteure und Ziele aus. Dabei unterscheidet er grundlegend zwischen folgenden zwei möglichen Zielen zivilen Widerstands: erstens die Unterstützung des bewaffneten Kampfes unter Rückgriff auf waffenfreie Mittel; zweitens die Verteidigung ziviler Ziele außerhalb und unabhängig militärischer Logik.

Sémelin untersucht in dem hier besprochenen Band ausschließlich historische Ereignisse, die dieser zweiten Form des zivilen Widerstands angehören. Mit dieser Entscheidung hängt auch die Wahl des Zeitraums 1939-1943 zusammen, während dem der Widerstand «noch verhältnismäßig gering organisiert und nicht völlig in die militärischen Schemata integriert war» (S. 54). Im Rahmen seiner Analyse schildert Sémelin eine Bandbreite von Fällen, die vom Protest einzelner Berufsstände bis zu Massenstreiks reichen. So erfährt der Leser unter anderem vom Kampf der Justiz in Belgien und Norwegen, vom Widerstand der sich gegenseitig unterstützenden Geistlichen und Lehrer gegen staatliche Eingriffe in Norwegen 1942, vom Kampf der niederländischen Ärzte gegen ihre erzwungene Einschreibung in eine Ärztekammer, von der Organisation des Unterrichtswesens im polnischen Untergrund, vom Massenstreik der Bergarbeiter in Belgien und Frankreich 1941, vom Streik gegen die militärische Zwangsrekrutierung in Luxemburg im August 1942, vom Massenstreik in den Niederlanden Ende April 1943, vom Protest der katholischen Kirche Belgiens gegen die Zwangsarbeit in Deutschland 1943, vom Kampf der deutschen Kirche gegen das «Euthanasie»-Programm sowie von der spektakulären Rettung der ca. 7.000 dänischen Juden, die dank Unterstützung der Bevölkerung nach Schweden evakuiert werden konnten.

Dabei strukturiert Sémelin seine Arbeit anhand einer Reihe interessanter und vielfach bis heute gültiger Erklärungsansätze und Überlegungen: so etwa zum Problem der Legitimität, zu den inneren und äußeren Faktoren zivilen Widerstands, oder zur Rolle der öffentlichen Meinung. Wo sich – wie in Norwegen – die legitimen Autoritäten strikt weigerten, die Besatzungsmacht in irgendeiner Weise anzuerkennen, hatte der zivile Widerstand größere Chancen auf eine rasche Entfaltung. Dagegen war er schwächer und entwickelte sich langsamer, wo die Legitimitätsfrage unklar war – wie in Belgien und in den Niederlanden – oder wo die Autorität mit der Besatzungsmacht zusammenarbeitete – wie in Vichy-Frankreich. Bereits vor der Eroberung durch Nazideutschland sozial zersplitterte Gesellschaften wie die Belgiens, das europaweit die höchste Quote an Kollaborateuren aufwies, boten schlechte Voraussetzungen für die Entwicklung zivilen Widerstands. Als äußere Faktoren förderten nicht nur physische Gewalt durch den Besatzer wie polizeiliche Repression, sondern auch der steigende Druck auf die Zivilbevölkerung angesichts der wirtschaftlichen Ausbeutung, die zu Nahrungsmittelknappheit und Unzufriedenheit führte, allmählich die Entstehung zivilen Widerstands.

Hinsichtlich Repression konstatiert Sémelin, dass diese bei Aktionen zivilen Widerstands schwächer als im Fall der Guerilla ausfiel, was aus dem nichtprovokanten, gewaltlosen Charakter der Aktionsmittel des zivilen Widerstands resultiere. Wie in der Nachkriegszeit geführte Interviews belegen, brachten gewaltlose Aktionen die deutschen Generäle geradezu aus dem Konzept. Sémelin teilt die These Jan Gross’, der zufolge politischer Terror ineffizient bleibt, wenn er sich – wie im Falle des westlichen Teils Polens – nur 'äußerlich' auf die Gesellschaft beschränkt und nicht von den Einzelnen selbst umgesetzt wird. «Zusammenarbeit und soziale Atomisierung scheinen dem Widerstand daher größeren Schaden zufügen zu können als die Repression selbst» (S. 181).

Im Kapitel zu den unterschiedlichen Wirkungen des zivilen Widerstands hält Sémelin noch einmal wichtige Bemerkungen allgemeiner Natur fest. Ziviler Widerstand könne auch als «Bewahrung einer Identität …, die durch Symbole verkörpert wird und durch Waffen nicht zerstört werden kann» (S. 229), begriffen werden. Ähnlich wie Claudio Pavone, für den der entscheidende Unterschied zwischen zivilem Widerstand und «Grauzone» in dem Akt der Gesetzesüberschreitung besteht[2], erläutert Sémelin, dass man, um zivilen Widerstand zu leisten, das Tabu der Illegalität brechen musste. Mit dieser hing die autoritäre Struktur sämtlicher Untergrundorganisationen zusammen. Sémelin unterscheidet eine direkte, indirekte und abschreckende Wirkung zivilen Widerstands. Wenngleich Aktionen zivilen Widerstands im nationalsozialistisch besetzten Europa durchaus Erfolge erzielten, habe es sich in diesem Rahmen stets um eine «Überlebensstrategie mit beschränkter Reichweite» (S. 248) gehandelt.

Bereits sechs Jahre vor Philippe Burrin verwies Sémelin auf die Anpassung der Mehrheitsgesellschaft. Sein größtes Verdienst besteht zweifelsohne darin, das Widerstandsverständnis erweitert zu haben: Es ist heute ein Gemeinplatz der italienischen Forschung, von «Resistenze» im Plural zu sprechen. Zugleich ermöglichte das Konzept des zivilen Widerstands auch eine stärkere Berücksichtigung der Formen weiblichen Widerstands[3]. Wenngleich Ohne Waffen gegen Hitler das Widerstands-Kollaborations-Paradigma nicht grundsätzlich infrage stellte, nahm diese Arbeit einige Überlegungen zur sozialen Dimension von Widerstand und zur Beziehung von Besatzern und Besetzten vorweg, wie sie für die neue Okkupationsforschung[4] charakteristisch sind. Dies gilt etwa für Sémelins Theorie der drei «Kreise» der sozialen Mobilisierung, die zwischen institutionellem Widerstand, aktiver und passiver Unterstützung differenziert.

Auch nach über 30 Jahren Abstand von der Erstveröffentlichung lohnt sich die Lektüre von Ohne Waffen gegen Hitler. Die deutsche Neuausgabe ist daher zu begrüßen, auch wenn sich durch ein sorgfältigeres Lektorat eine Reihe von Rechtschreibfehlern (angefangen beim Namen des Autors) hätte vermeiden lassen.

[1] Vgl. P. Pezzino, Note sulla categoria di resistenza civile, in: G. Formigoni - D Saresela (Hrsg.), 1945. La transizione del dopoguerra, Roma, Viella, 2017, S. 99-117.

[2] Vgl. C. Pavone, Caratteri ed eredità della "zona grigia", in «Passato e Presente. Rivista di Storia contemporanea», 42, 1998, S. 5-12.

[3] Vgl. A. Bravo, Resistenza civile, in E. Collotti - R. Sandri - F. Sessi (Hrsg.), Dizionario della Resistenza, Bd. 1: Storia e geografia della Liberazione, Torino, Einaudi, 2000, S. 268-282; M. de Keizer, La 'resistenza civile'. Note su donne e seconda guerra mondiale, in «Italia contemporanea», 200, 1995, S. 469-476.

[4] Vgl. V. Drapac - G. Pritchard, Beyond Resistance and Collaboration: Towards a Social History of Politics in Hitler‘s Empire, in: «Journal of Social History» 48, 2015, 4, S. 865-891; T. Tönsmeyer, Besatzungsgesellschaften. Begriffliche und konzeptionelle Überlegungen zur Erfahrungsgeschichte des Alltags unter deutscher Besatzung im Zweiten Weltkrieg, Version: 1.0, in «Docupedia-Zeitgeschichte», 18.12.2015, URL: http://docupedia.de/zg/Besatzungsgesellschaften (19.05.2022). Ein Plädoyer für ein Festhalten am Kollaborationsbegriff hält hingegen Grzegorz Rossoliński-Liebe, Kollaboration im Zweiten Weltkrieg und im Holocaust – Ein analytisches Konzept, Version: 2.0, in «Docupedia-Zeitgeschichte», 21.07.2020 http://docupedia.de/zg/Rossolinski-Liebe_kollaboration_v2_de_2020 (20.05.2022).

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