Annali dell'Istituto storico italo-germanico | Jahrbuch des italienisch-deutschen historischen Instituts

42, 2016/2

Filippo de Vivo - Andrea Guidi - Alessandro Silvestri (ed.)

Archivi e archivisti in Italia tra medioevo ed età moderna

Review by: Katia Occhi

Editors: Filippo de Vivo - Andrea Guidi - Alessandro Silvestri
Title: Archivi e archivisti in Italia tra medioevo ed età moderna
Place: Roma
Publisher: Viella
Year: 2015
ISBN: 978-88-6728-457-3

Reviewer Katia Occhi - FBK-ISIG

Citation
K. Occhi, review of Filippo de Vivo - Andrea Guidi - Alessandro Silvestri (ed.), Archivi e archivisti in Italia tra medioevo ed età moderna, Roma, Viella, 2015, in: ARO, 42, 2016, 2, URL https://aro-isig.fbk.eu/issues/2016/2/archivi-e-archivisti-in-italia-tra-medio-katia-occhi/

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Dieser interessante Band, entstanden im Rahmen des vom European Research Council finanzierten Projekts AR.C.H.I.ves, hat das Ziel, «das Aufkommen verschiedener Formen der Schriftgutaufbewahrung zu erforschen, einer Geschichte, die untrennbar mit der Entstehung eben dieses Schriftguts verknüpft ist» (S. 10). In den letzten Jahrzehnten hat die geschichtswissenschaftliche Forschung herausgearbeitet, wie sich seit dem Spätmittelalter überall auf der italienischen Halbinsel die Regierungsapparate entwickelten (wobei zwischen fürstlichen, städtischen, kirchlichen und feudalen Herrschaftsorganen zu unterscheiden ist). Dazu gehört auch die eingehende Beschäftigung mit der philosophisch-literarischen Produktion der Kanzler und Sekretäre.

Die Praxis der Erstellung und Verwaltung der Urkunden- und Aktenbestände hingegen blieb im Dunkeln. Nun beleuchten die 14 Beiträge dieses Bandes das Thema anhand einer geographisch repräsentativen Auswahl unter den alten italienischen Staatsgebieten zwischen Spätmittelalter und Neuzeit.

Der in drei Schwerpunktbereiche gegliederte Band wird von den drei Herausgebern mit einem umfassenden Überblick über den aktuellen Forschungsstand zur Geschichte der Institutionen, der Schriftguterstellung und des Archivwesens eingeleitet, die heute dank des sogenannten archival turn erneut wissenschaftliches Interesse genießen.

Unter dem Titel «Personen und kollektive Strategien» thematisiert der erste Teil die sozialen Aspekte der Lebensläufe, Aufgaben und Arbeitsbereiche der Personen, die mit der Erstellung und Aufbewahrung der Schriftstücke befasst waren. A. Silvestri beschäftigt sich mit dem Königreich Sizilien im Hochmittelalter und zeigt auf, dass sich hier ein System aus mehreren Kanzleien etabliert hatte, in denen die Schriftstücke in Register übertragen, nach Jahren geordnet und in einem alphabetischen Verzeichnis erfasst wurden. Diese Art der Schriftgutverwaltung folgte Methoden, die nicht kodifiziert waren, vielmehr wurden sie innerhalb der Kanzleien von den maestri notai überliefert, auch stießen sie mit dem exponentiellen Anwachsen von Akten- und Urkundenmaterial in der Neuzeit an ihre Grenzen.

P.P. Piergentili befasst sich mit Luca Beni della Serra, einem Hofkanzler der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts im Dienste des Herzogs von Montefeltro. An seinem sozialen Aufstieg lassen sich die Abhängigkeiten der Landesherren Umbriens und der Marken und ihren territorialen Beamten gut nachvollziehen.

A. Gardi untersucht eingehend die Tätigkeiten der Kanzler im Dienst der päpstlichen Legaten in Bologna gegen Ende des 16. Jahrhunderts. Diesen kam im Kontakt zwischen der Zentralmacht und den Behörden in den Randgebieten des Kirchenstaates eine Schlüsselposition zu. An Giovanni Maria Monaldini, der fast dreißig Jahre Kanzler war, lässt sich zeigen, dass die Ämter in der Kirchenstaatsverwaltung ein Vehikel für den sozialen Aufstieg und die politische Integration neu entstandener Schichten darstellten.

I. Mauro untersucht eine Gruppe von Kanzlern und deren Aufgaben in der Verwaltung und der Schriftguterschließung und rekonstruiert dabei die Dyna- miken und Probleme beim Staatsbildungsprozess des Großherzogtums Toskana im 16. Jahrhundert. Dabei offenbart sich besonders beim Übergang von der lokalen zur zentralen Kontrolle die Dialektik zwischen den Stadtgemeinden, die ihre Kanzler nun nicht mehr selbst ernennen und damit auch keinen Kandidaten mehr begünstigen konnten, und dem Florentiner Magistrato dei Nove, einem Gremium mit weitreichenden finanzpolitischen und gerichtlichen Befugnissen.

Auch der Aufsatz von C. Bitossi befasst sich mit den Protagonisten der Aktenund Urkundenerstellung, insbesondere mit den Notaren in Genua, einer der einflussreichsten und dynamischsten Gruppen in der Spätzeit der Kommune. Dabei handelte es sich um eine ausgesprochen komplexe Berufsgruppe, Geschäftsleute und Gebildete zugleich, die Regierungsfunktionen ausübten und zur geistigen Elite der popolari gehörten. Der soziale Aufstieg dieser vielseitigen Persönlichkeiten führte zur Herausbildung besonders einflussreicher Dynastien von Notaren, aus denen sogar einige Dogen hervorgingen. Der Autor gibt uns einen interessanten Einblick in die Verfahrenspraxis der Senatskanzlei im 16. Jahrhundert, deren drei Sekretäre aus den Reihen der Notare kamen.

Der zweite Teil des Bandes ist dem Thema «Archive und Macht» gewidmet und beginnt mit einem Beitrag von F. de Vivo. Er schreibt, dass für die Republik Venedig «das Archiv kein Ort der Gelehrsamkeit war, sondern ein zentraler Bestandteil der Staatsregierung» (S. 174). Es unterstand der Aufsicht der Kanzlei, die ihren Sitz im Dogenpalast hatte. Diese Verwaltungsstruktur geht bis ins 13. Jahrhundert zurück. Die Kanzlei war in Abteilungen mit jeweils spezifischen Aufgaben gegliedert und beschäftigte angeblich gegen Ende des 15. Jahrhunderts bereits über 100 Sekretäre, die dem Cancellier grande unterstanden und Bürger Venedigs waren. Sie verkörpert den Mythos vom Triumph der Bürokratisierung, und der Autor verfolgt sie anhand ihrer Praktiken und Problematik bis zu ihren Anfängen zurück.

Entstehung, Arbeitsweise und Struktur der Florentiner Kanzlei zwischen 1512 und 1527 sind Gegenstand des Beitrags von V. Arrighi, die die Kanzler im öffentlichen Dienst und die privaten Sekretäre erforscht. Diese kamen in der Regel aus der Peripherie des Hoheitsgebiets und wurden entsprechend ihrer Patronatsbeziehungen zu Mitgliedern der Medici-treuen Regierung ausgewählt. Sie entstammten einfachen Familien, hatten notarielle Kompetenzen erworben und wurden auch deshalb bevorzugt, weil sie der herrschenden Schicht in der Stadt fernstanden.

Der Beitrag von L. Turchi befasst sich mit den praktischen Aspekten der Erschließung des unter den Herzögen von Este produzierten Schriftguts. Die Autorin analysiert das System der Verzeichnisse für die diplomatische Korrespondenz, die in der sogenannten Grotta – dem Regierungsarchiv – aufbewahrt wurde, und beschreibt es anhand von zehn zwischen 1559 und 1597 entstandenen Registern und dem dazugehörigen Personal.

Mit dem Supremo Consiglio d’Italia, dem zunächst in London, dann in Madrid ansässigen Regierungsorgan des «spanischen» Italiens, befasst sich M. Rivero Rodriguez. Der Autor konzentriert sich dabei auf die Entstehung dieser Institution im Jahr 1555 und die komplexe Verwaltung der Dokumentenbestände, die die Angelegenheiten Mailands, Neapels und Siziliens betrafen. Konkret werden die Reformen zur Organisation der Kanzleiverzeichnisse und zur Neudefinition der Rolle der Sekretäre analysiert. Dabei hebt der Autor hervor, dass sich «das Archiv, seine Funktionen und sein Personal heute als außerordentlich nützlich erweisen, um die Dynamik der spanischen Herrschaft über die Halbinsel und ihre imperiale Machtausübung zu klären» (S. 239).

Der Beitrag von A. Giorgi und S. Moscadelli beschäftigt sich mit der spätmittelalterlichen und neuzeitlichen Produktion des notariellen Schriftguts. In der Geschichtswissenschaft herrscht mittlerweile Gewissheit, dass die Orte der Schriftgutaufbewahrung und der Schriftguterstellung oft nur scheinbar übereinstimmen und sich die Wirklichkeit weitaus differenzierter darstellt. Dies zeigt sich vor allem bei der Überlieferung von Notariatsbeständen, die etwa bei Behörden und Berufsverbänden registriert oder «von Notar zu Notar» weitergereicht und zu Beginn des 19. Jahrhunderts vornehmlich in Gerichtsarchiven erschlossen wurden, denen die Aufbewahrung sowohl von Privaturkunden als auch von Gerichtsakten oblag. Diese Neustrukturierung in napoleonischer Zeit macht es heute erforderlich, «die Archive und Archivierungssysteme der Notariatsbestände im Ancien Regime als eigenständige Einrichtungen, nämlich als Orte der Gedächtnisorganisation, und damit auch die zentrale Figur des Notars – sei er selbstständig, in Berufsverbände eingebunden oder Beamter – in seiner Rolle als öffentlicher Gedächtnisbewahrer zu erforschen» (S. 281).

Der dritte Teil des Buches ist dem Thema «Archiv und Kultur» gewidmet. B. Saletti untersucht den Notar Ugo Caleffini, der für die Hofkammer der Este in Ferrara arbeitete, ein unermüdlicher Verfasser von Geschichten und Chroniken über die Stadt am Ende des 15. Jahrhunderts. Seine Berichte bieten einen Einblick in die täglichen Geschäfte der niederen Behörden der Renaissancehöfe. G. Giudici zeichnet ein genaues biografisches Profil von Ludovico Annibale della Croce (15091577), einem wenig bekannten Humanisten, der einem Erasmus-Kreis angehörte und während der Nuntiatur von Kardinal Giovanni Morone in Deutschland als dessen Sekretär tätig war. Im Anschluss stand della Croce über 40 Jahre lang als Sekretär, Kanzler und Archivar im Dienst des Mailänder Senats, von 1499 bis 1786 oberster Rat der Stadt mit gerichtlichen und politischen Befugnissen.

Auf der Grundlage seiner langjährigen Erfahrung als Kanzler der venezianischen Statthalter in verschiedenen kleinen Gemeinden der venezianischen Terraferma und einigen Städten des Stato da Mar erstellte der Notar Giovanni da Prato della Valle um das Jahr 1460 sein Werk De arte cancellarie, eine Sammlung von Faksimiles öffentlicher Akten und Urkunden. G.M. Varanini unterzieht dieses Werk einer genauen Analyse. Darin sind eine Reihe eher praktischer als theoretischer Ratschläge und Anweisungen aufgeführt, die einem Kanzler, der «wirklich ein bisschen von allem machen muss», nützlich sein können, weil er seine Tätigkeit in kleinen Zentren und somit ohne die Unterstützung eines gut organisierten Verwaltungsapparats ausübte. Auch konnte er kaum auf die Hilfe des Statthalters zählen, meist ein junger Patrizier am Anfang seiner Karriere, der über weit weniger Kompetenzen verfügte als der Kanzler selbst. Wie der Autor feststellt, entstand diese Sammlung genau in dem Zeitraum, als sich die Beziehungen zwischen Venedig und seinen Territorien auf dem Festland veränderten und dem venezianischen Senat in den Sechzigerjahren bewusst wurde, welche Bedeutung diese Gebiete inzwischen erlangt hatten. In diesem Sinne belegt die Sammlung «das Bestreben, eine verwaltungstechnisch homogene Koine zu schaffen» (S. 337).

Abschließend erweitert P. Burke seine Analyse über das italienische Panorama hinaus und frischt die Diskussion über die auf der Erfassung, Aufbewahrung und Verwendung von Informationen basierenden Grundlagen der Archivforschung auf. Er lädt dazu ein, weiterführende Überlegungen zum Archiv als physischer, räumlicher und konzeptueller Erfahrung jeder Gesellschaft anzustellen, um zu verstehen, wer warum welches Material aufbewahrte und entlang welcher kultureller Traditionen dieses Schriftgut aufgebaut wurde.

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