Annali dell'Istituto storico italo-germanico | Jahrbuch des italienisch-deutschen historischen Instituts

40, 2014/2

Giovanni Orsina

Il berlusconismo nella storia d’Italia

Massimo L. Salvadori

Storia d’Italia, crisi di regime e crisi di sistema

Review by: Gabriele D’Ottavio

Authors: Giovanni Orsina
Title: Il berlusconismo nella storia d’Italia
Place: Venezia
Publisher: Marsilio Editori
Year: 2013
ISBN: 978-88-317-1298-9

Authors: Massimo L. Salvadori
Title: Storia d’Italia, crisi di regime e crisi di sistema. 1861-2013
Place: Bologna
Publisher: Il Mulino
Year: 2013
ISBN: 9788815247131
URL: link to the title

Reviewer Gabriele D’Ottavio

Citation
G. D’Ottavio, review of Giovanni Orsina, Il berlusconismo nella storia d’Italia, Venezia, Marsilio Editori, 2013, in: ARO, 40, 2014, 2, URL https://aro-isig.fbk.eu/issues/2014/2/il-berlusconismo-nella-storia-ditalia-gabriele-dottavio/

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Als 1994 die Erstauflage von Storie d’Italia e crisi di regime. Alle radici della politica italiana erschien, wurde der Essay des piemontesischen Historikers Massimo Salvadori als einer der gelungensten Versuche gewertet, die politischen Umbrüche der Gegenwart in eine historische Perspektive des langen Zeitraums einzuordnen. Um den Zusammenbruch der sogenannten «Ersten Republik» zu erklären, nahm Salvadori nicht die gewohnten konjunkturellen Faktoren (das Ende des Kalten Krieges, die Schmiergeldaffären, die Reform des Wahlgesetzes usw.) ins Visier, sondern richtete den Fokus vielmehr auf die systemimmanenten Defizite des italienischen politischen Systems. Er stellte heraus, dass die verschiedenen Phasen in der Geschichte Italiens (vom liberalen zum faschistischen Regime, vom faschistischen zum republikanischen Regime, von der «Ersten» Republik zu einer vermeintlichen «Zweiten») zwar durch erhebliche Unterschiede geprägt waren, es aber trotzdem einen die Gesamtheit der Ereignisse miteinander verbindenden roten Faden gab: nämlich die Erstarrung eines politischen Systems mit fehlendem Alternanzmechanismus dessen Ablösung stets nach traumatischen Krisen und einem darauf folgenden Regierungswechsel erfolgte.

Auf diese fortwährende «Erstarrung» führte Salvadori eine ganze Reihe von Charakteristika zurück, die die italienische Demokratie im Vergleich zu den bedeutendsten westeuropäischen Ländern in negativer Weise beeinflussten und einen Wandel verhinderten: die politische Dialektik als Wettbewerb zwischen Staat und «Gegenstaat»; die Identifizierung der politischen Formationen an der Regierung mit dem Staat und demzufolge die conventio ad excludendum für die Oppositionsparteien; die Allmacht der Institutionen, die Korruption, den Klientelismus, die Verachtung den Regeln und Normen gegenüber, den amerikanischen Familiensinn, das tendenzielle Misstrauen und den Glauben an den «starken Mann», den mangelhaften Bürgersinn und schließlich die Kunst sich zu arrangieren. Salvadori sah im Versäumnis eines von den Akteuren aus Politik und Gesellschaft gleichermaßen getragenen nationalen Ethos die grundlegende Eigenheit des Landes, die Italien zum Sonderfall gegenüber den anderen Staaten machte und eine Erklärung für die Krise des politischen Systems zwischen 1992 und 1994 lieferte. Auf der letzten Seite seines Essays fragte sich der Autor, ob es wohl möglich wäre, in Italien eine «Normalisierung» des politischen Systems im Sinne der westlichen Demokratien herbeizuführen. Wollte man die «italienische Eigenheit» überwinden, dann konnte das seinen Überlegungen zufolge nur unter folgenden beiden Voraussetzungen erfolgen: Zum einen durch die Einleitung institutioneller Reformen zur Schaffung eines politisches Systems, in dem sich zwei stärkere Parteien im freien Wettbewerb um die Führung des Landes gegenüberstehen; zum anderen durch einen radikalen Wandel der politischen Kultur des Landes, der dem «weltanschaulichen Bürgerkrieg» – wie Salvadori ihn definiert – ein Ende gesetzt hätte. Solange die politischen Führungsklassen die Oppositionsparteien regelrecht als Feinde betrachteten (die Christdemokaten und Sozialisten in den Augen der Liberalen, die Antifaschisten in den Augen der Faschisten, die Kommunisten in den Augen der Regierungsparteien während der republikanischen Phase), wäre nach Ansicht des Autors die Perspektive einer durch die Alternanz geprägten Demokratie kaum realistisch gewesen.

Die seit 1994 vierte neubearbeitete Auflage seines Essaybands zeigt, wie zutreffend und vor allem wie aktuell die Analyse des Historikers aus dem Piemonts ist. Die 2013 mit dem leicht abgeänderten Titel (Storia d’Italia, crisi di regime e crisi di sistema 1861-2013) erschienene Neuauflage nimmt auch die jüngsten politischen Ereignisse in den Blick. Diese bieten dem Verfasser vorzügliche Argumente zur Stärkung seiner Grundthese: Obwohl der Mechanismus des Regierungswechsels in Gang gesetzt worden sei, hätten die ausgebliebene gegenseitige Legitimierung der politischen Kräfte und die damit zusammenhängende Unfähigkeit des politischen Systems, die für die Modernisierung des Landes erforderlichen Reformen zu initiieren, weiterhin die Leistungsfähigkeit der Demokratie in Italien enorm beeinträchtigt. Und dies in einem Ausmaß, dass dadurch in Bezug auf die Ereignisse der Jahre 2012/13 die «zweite Krise des Systems», wie Salvadori sie bezeichnet, in der republikanischen Geschichte des Landes herbeigeführt worden sei. Eine Krise, die vorwiegend durch die «Aushöhlung» der Parteien und die Bildung einer ‘technischen’ Regierung gekennzeichnet war.

Die Bedeutung von Salvadoris Essays geht auch aus der umfangreichen Geschichtsschreibung hervor, die seit der Erstauflage des Werkes explizit oder implizit einen ähnlichen oder grundsätzlich gleichen Ansatz zur Erklärung der «italienischen Eigenheit» erkennen lässt. Gleichsam macht diese Art von Literatur aber die Vorzüge ebenso wie einige grundlegende Mängel seiner Betrachtung sichtbar. Insbesondere die Perspektive eines langen Zeitraumes und die Definierung des Zeitraums nach 1994 als eine lange Krisenzeit haben einige Historiker in eine Art retrospektiven Determinismus abgleiten lassen. In dieser Tradition stehen all jene Rekonstruktionen, die in Anlehnung an die «Geschichtsschreibung des Niedergangs», wie Rosario Romeo sie treffend definierte, die Geschichte Italiens als die eines «verfehlten» oder «unvollständigen Landes» nachzeichnen: ein Land, das von einer Erbsünde gezeichnet ist und im «Berlusconismus» eine seiner negativsten Ausdrucksformen gefunden hätte. Gerade die übermäßige Fokussierung auf den vorgegebenen Gang der Geschichte und eine gewisse Tendenz, den von Salvadori gezeichneten Leitfaden als schwarzen Faden zu deuten, haben nicht selten dazu geführt, dass eine derartige Literatur es kaum vermochte, die tatsächliche Komplexität und Spezifität der italienischen Politikgeschichte der letzten Jahre in Beziehung zu deren Vergangenheit zu erfassen.

Dem Historiker Giovanni Orsina aus Rom ist dies hingegen mit seinem Essayband Il berlusconismo nella storia d’Italia in vorzüglicher Weise gelungen, ohne in einen retrospektiven Determinismus oder militanten Ansatz zu verfallen. Sein Essay kann indes als eine der seriösesten und innovativsten Analysen des Phänomens des Berlusconismus angesehen werden. Im Bewusstsein um die geringe zeitliche Distanz seines Untersuchungsgegenstandes – ein historisches Phänomen, das noch lange nicht abgeschlossen ist – richtet der Autor den Fokus nicht auf die Regierungstätigkeit, sondern vielmehr auf den Berlusconismus selbst und damit auf die Substanz des öffentlichen Diskurses des Gründers der Partei Forza Italia. Ebenso wie Salvadori vertritt auch Orsina die Auffassung, dass es notwendig sei, auf die Ursprünge des republikanischen Italiens, ja vielleicht sogar auf das Risorgimento zurückzugehen, um den Berlusconismus wirklich verstehen zu können. Und wie der Historiker aus dem Piemont glaubt auch Orsina, dass trotz der großen Unterschiede zwischen den verschiedenen historischen Phasen ein roter Faden erkennbar sei, der sich ausgehend von der Einigung Italiens bis hin zum Zusammenbruch der «Ersten Republik» durch die gesamte Geschichte des Landes zieht. Entgegen der Mehrheit der Historiker, die sich für den Ansatz und die These von Salvadori ausgesprochen haben, erliegt Orsina jedoch keineswegs der weit verbreiteten Versuchung, den italienischen Faschismus, das demokratische System und schließlich den Berlusconismus in eine vermeintliche «Autobiografie der Nation» zu verorten: ein Paradigma, das das Bestehen von angeborenen, «quasi-anthropologischen Charackterzügen der Italiener» voraussetzt, die das Land zu einem negativen Schicksal verdammen würden. Orsina stellt die Gültigkeit einer solchen Sichtweise nicht kategorisch in Abrede, sondern bereichert sie (und schlägt de facto deren Überwindung vor) durch einen anderen und ergänzenden Ansatz. Er regt an, den Berlusconismus nicht nur als Folge der «italienischen Anomalie», sondern auch als, zwar gescheiterten, Versuch zu rezipieren, diese zu überwinden. Es handelt sich hier um eine überzeugende Sichtweise, die es dem Autor ermöglicht, nicht nur den historischen Beständigkeiten und damit zumindest einem Teil der Ursachen für das Scheitern, auf den Grund zu gehen, sondern auch die tiefgründigen Faktoren des politischen Erfolgs des Berlusconismus herauszuarbeiten. Indem er einen vornehmlich auf die politisch-kulturellen bzw. weltanschaulichen Aspekte fokussierten Ansatz wählt, sieht Orsina die «historische Eigenheit» Italiens nicht so sehr in der permanenten Erstarrung des politischen Systems, deren Bedeutung er zwar einräumt, sondern vielmehr in der fortwährenden Trennung zwischen «legalem Land» und «realem Land» und den daraus resultierenden Auswirkungen auf das Verhältnis von politischer Elite und Zivilgesellschaft. «Seit dem Risorgimento war die Geschichte Italiens, wenn auch in sehr unterschiedlicher Form und Ausprägung in den nachfolgenden Jahrzehnten, vom Thema der ‘Forcierung’ beherrscht. Das aus seiner moralischen und materiellen Rückständigkeit nolens volens und auf jeden Fall sehr schnell zu ‘forcierende’ Element war dabei das Land selbst». In Anlehnung an das theoretische und philosophische Denken von Michael Oakeshott und Karl Popper besteht die historische Eigenart Italiens nach Ansicht des Autors, stark vereinfacht gesagt, im unentwegten Versuch der politischen Elite, die Gesellschaft durch «orthopädische» Eingriffe und «pädagogische» Maßnahmen quasi gewaltsam zu modernisieren.

Vor dem Hintergrund dieser Annahme lässt sich neben den außergewöhnlichen wirtschaftlich-medialen Ressourcen denn auch eine der grundlegenden Komponenten des Erfolgs des Berlusconismus erkennen. Diese sieht der Autor in der Substanz der politischen Botschaft, die die traditionellen Muster der öffentlichen Diskurse über die Nation zu sprengen vermag. Nach den wiederholt gescheiterten Versuchen der politischen Führungsklassen, die «Italiener zu schaffen», und sie von oben zu erziehen und zu reformieren, sei es Berlusconi gelungen, so der Autor, eine völlig neue Botschaft zu vermitteln – historisch betrachtet in der Substanz nur mit Guglielmo Giannini und der Uomo Qualunque-Bewegung (1945-1948) vergleichbar –, die auf der Denunziation der Politik, des Staates und einer auswuchernden und zu reformierenden öffentlichen Verwaltung sowie auf den schmeichelhaften Versprechen an die Zivilgesellschaft beruhte. In dieser Botschaft finden sich auch die beiden Elemente, die Orsina dazu bewegen, das berlusconische Weltbild als eine «Emulsion aus Populismus und Liberalismus» zu definieren. In diesem komplexen weltanschaulichen Gemenge bzw. in dessen besonderer berlusconischen Ausprägung sieht der Autor auch die wichtigsten Gründe, die das Scheitern der bisherigen Bemühungen zur Überwindung der «italienischen Eigenart» erklären. Indem er auf einen möglichen Vergleich mit de Gaulle hinweist, lässt Orsina erkennen, dass diese besondere Alchimie aus rechtsgerichtetem Populismus und Liberalismus anderswo angeblich gut funktioniert habe. Bezogen auf Berlusconi seien es hingegen gerade einige seiner Charakterzüge, seine privaten Affären und seine begrenzte politische Kultur gewesen, die dazu geführt hätten, dass er seine Botschaft nicht umsetzen und damit sein Versprechen einer Modernisierung des Landes nicht halten konnte.

Trotz der teilweise sehr unterschiedlichen Annahmen und Perspektiven scheint Orsinas Betrachtung über die Auswirkungen des Berlusconismus interessante Parallelen zu Salvadoris Deutungsrahmen aufzuweisen, auch wenn dieser auf einer pessimistischen Diagnose der italienischen Nation beruht. Grundlegend verschieden und sehr viel differenzierter bleibt hingegen die Gesamtbeurteilung des Berlusconismus aus historischer Sicht. Orsina erkennt in dem Phänomen zwar auch sehr viele typische Mängel und historische Schwächen Italiens, doch gesteht er diesem immerhin bis zu den Parlamentswahlen im Jahre 2006 eine bedeutende Ersatzfunktion in einem politischen Kontext zu, der seiner Analyse zufolge in Bezug auf die politische Führungsklasse, die politische Kultur und den institutionellen Aufbau völlig mangelhaft ist. Die Historisierung der degenerativen Phase und des Niedergangs des Berlusconismus als politische Bewegung und Idee erscheint allerdings aufgrund der zu geringen zeitlichen Distanz noch weitgehend unvollendet.

Der Essayband von Giovanni Orsina ist von unzweifelhafter Bedeutung und steht in der Tradition einer Interpretation der Geschichtsschreibung, die die jüngste Geschichte Italiens aus der Perspektive eines langen Zeitraums betrachtet und von der Massimo Salvadori zu Recht als Vorläufer angesehen werden kann. Andererseits weist der Band von Orsina aber einen Mehrwert auf, den man in dieser Form anderswo nicht immer findet. Dieser besteht im Bemühen des Verfassers, zumindest einen Teil der Komplexität und Spezifität der jüngsten Geschichte Italiens wiederherzustellen, ohne auf überkommene Vorstellungen oder Gemeinplätze zurückzugreifen.

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