Annali dell'Istituto storico italo-germanico | Jahrbuch des italienisch-deutschen historischen Instituts

40, 2014/2

Gian Enrico Rusconi

1914: attacco a occidente

Review by: Marco Mondini

Authors: Gian Enrico Rusconi
Title: 1914: attacco a occidente
Place: Bologna
Publisher: Il Mulino
Year: 2014
ISBN: 978-88-15-25098-8

Reviewer Marco Mondini - Università di Padova- Isig

Citation
M. Mondini, review of Gian Enrico Rusconi, 1914: attacco a occidente, Bologna, Il Mulino, 2014, in: ARO, 40, 2014, 2, URL https://aro-isig.fbk.eu/issues/2014/2/1914-attacco-a-occidente-marco-mondini/

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Das Gedenkjahr des hundertsten Jahrestages der «Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts», wie George Kennan sie nannte (und damit eine ebenso berühmte wie mittlerweile strapazierte Bezeichnung prägte) ließ vermuten, dass die Anzahl der Veröffentlichungen zu den Ursprüngen und Ursachen des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs einen gewaltigen Anstieg erfahren würde. Das Jahr 2014 brachte indes Fragen ins Bewusstsein fast aller Europäer zurück, von denen man angenommen hatte, dass sie nur mehr in der Fachliteratur präsent seien, und die nun erneut im Fokus einer entweder als Diskurs unter Gelehrten oder als öffentliche Diskussion geführten, intensiven Auseinandersetzung stehen. Der große Erfolg von Christopher Clarkes analytischem und gut lesbarem (wenn auch nicht immer tadellosem) Buch Die Schafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog rief ebenso Gefühle wach, von denen man geglaubt hatte, dass sie der Vergangenheit angehörten. Und der Diskurs über die Ursprünge des großen Krieges ist entgegen allen Erwartungen der Experten in eine neue Debatte um die Schuldfrage umgeschlagen, die seit Jahrzehnten (zumindest seit der Fischer-Kontroverse) nicht mehr so heftig geführt wurde.

Gemeinsam haben diese lebhaften (ja mitunter sogar heftigen) Debatten, dass darin Italien üblicherweise keine Erwähnung findet. Dass das italienische Königreich ursächlich nur eine marginale, um nicht zu sagen überhaupt keine Bedeutung für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges im Sommer 1914 hatte, ist hinlänglich durch die Sachliteratur, aber vor allem durch die Geschichtsschreibung bestätigt. Selbst in den minutiösesten Analysen zu den auslösenden Ursachen des Konflikts zwischen Serbien und Österreich-Ungarn und des darauffolgenden Ersten Weltkrieges findet das italienische Königreich nur selten oder überhaupt keine Erwähnung. Von einigen sehr wenigen Ausnahmen abgesehen gehen auch die akribischsten Historiker kaum auf die diplomatischen und politischen Beziehungen Roms zu den übrigen Staatskanzleien Europas ein, und wenn, dann nur, um nebenbei (je nach Herkunft des Autors mit mehr oder minder großem Wohlwollen) darauf hinzuweisen, dass Italien nicht bereit war, gemeinsam mit den Verbündeten der Tripelentente in den Krieg gegen das Vereinigtes Königreiche, Frankreich und Russland zu ziehen. Als einer der ganz wenigen hat Holger Afflerbach in seinem Werk Der Dreibund (2002) passend geschildert, wie der (alles andere als einfache) Entschluss Italiens, dem Druck des Deutschen Reiches auf einen sofortigen Kriegseintritt standzuhalten, ein bedeutender (wenn nicht gar der entscheidende) Moment in der Anfangsphase des Kriegs war (auch wenn ein derart penibler Autor und guter Kenner der italienischen Geschichte letztlich in seiner Analyse dann doch dem Anschein eines moralischen «Verrats» der Italiener erlegen ist).

Eines der größten Verdienste des von Gian Enrico Rusconi verfassten Buches 1914. Attacco a Occidente über die unmittelbaren Ursachen und den Verlauf des Ersten Weltkriegs besteht in der Herausarbeitung der Rolle Italiens im hochkomplizierten Geflecht der internationalen Politik Europas in den Monaten Juni und Juli 1914. Im ersten Teil des Buches zeichnet der Autor ein klares und präzises Bild vom komplexen Netz der diplomatischen Beziehungen zwischen den einzelnen Hauptstädten und insbesondere zwischen Wien und Berlin nach dem Attentat in Sarajevo. Daran anschließend beleuchtet er eindrucksvoll den Beitrag der militärischen Aufrüstung des Deutschen Reichs sowie der Spannungen zwischen politischer und militärischer Elite in Berlin zur Krise, um abschließend auf das Scheiterns der diplomatischen Bemühungen einzugehen, die bis dahin das wenn auch instabile Gleichgewicht der Kräfte in Europa gesichert hatten. Der zweite Teil umfasst die Anfangsphasen der Gefechte in den Grenzgebieten, die Schlacht an der Marne, das Scheitern des Schlieffen-Plans mit dem darauffolgenden Rückzug der deutschen Truppen nach Norden und der Erstarrung der Westfront im Winter sowie den Beginn des Grabenkriegs. Zwar handelt es sich hier um vermeintlich wohlbekannte und vieldiskutierte Geschehnisse, dennoch wird gerade in diesem Teil das zweite große Verdienst des Buches besonders deutlich, indem der Autor dem nicht deutschsprachigen Leser eine reichhaltige Literatur in deutscher Sprache zugänglich macht, die außerhalb des deutschen und österreichischen Verlagswesens in dieser Form zumeist unbekannt oder nur Fachleuten bekannt ist. Und selbst unter diesen gelingt es nur wenigen Historikern, derart komplexe Rekonstruktionen auf Basis deutschsprachiger Literatur mühelos zu bewältigen.

Der dritte Teil widmet sich ausschließlich der Rolle Italiens ausgehend von der Julikrise von 1914 und der beschwerlichen Wahrung der Neutralität bis hin zur hochkomplizierten Entscheidung zum Kriegseintritt: unzweifelhaft der originellste Teil des Buches, von dem vielleicht weniger die italienischen als vielmehr die ausländischen Leser profitierten (aber auch die ausländischen Historiker, die mit den damaligen Geschehnissen auf der Halbinsel oftmals in sträflicher Weise kaum vertraut sind). Im Fokus dieses Teils steht eine besonders ausgewogene Reflexion über die Spannungen zwischen Befürwortern und Gegnern eines Tripelentente-Beitritts, zwischen Interventionisten und Neutralisten, aber ebenso über die alles andere als friedlichen Beziehungen zwischen Politik- und Militärelite mit offenen Befürwortern (vor allem in der Militärführung) für einen Kriegseintritt an der Seite des Deutschen Reiches einerseits und gemäßigteren Vertretern einer besonneneren Entscheidung andererseits. Die überaus berech- tigten Argumente von letzteren, wie etwa die unzureichende Ausstattung des königlichen Heeres infolge des äußerst verlustreichen langen Libyen-Feldzugs und die offensichtliche militärische Unterlegenheit des italienischen Königreichs gegenüber der See- und Wirtschaftsmacht Großbritannien werden dabei sehr eindringlich herausgestellt.

Das Buch schließt mit dem überaus anregenden vierten Teil über die Wirkungen des «Syndroms von 1914» auf das Jahr 1939: Die Herausarbeitung der psychologischen Relevanz des von der deutschen und österreichischen Propaganda einmal mehr kolportierten Topos des «italienischen Verrats» für die eher emotionale und hysterische als rationale Haltung Mussolinis und seiner Anhänger in der Zeit zwischen dem Sommer 1939 und Juni 1940 erscheint zumindest als Anregung zur Diskussion interessant.

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