Annali dell'Istituto storico italo-germanico | Jahrbuch des italienisch-deutschen historischen Instituts

38, 2012/2

Gian Enrico Rusconi

Cavour e Bismarck

Review by: Brigitte Mazohl

Authors: Gian Enrico Rusconi
Title: Cavour e Bismarck. Due leader fra liberalismo e cesarismo
Place: Bologna
Publisher: Il Mulino
Year: 2011
ISBN: 978-88-15-14657-1

Reviewer Brigitte Mazohl

Citation
B. Mazohl, review of Gian Enrico Rusconi, Cavour e Bismarck. Due leader fra liberalismo e cesarismo, Bologna, Il Mulino, 2011, in: ARO, 38, 2012, 2, URL https://aro-isig.fbk.eu/issues/2012/2/cavour-e-bismarck-due-leader-fra-libera-brigitte-mazohl/

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Die deutsche und die italienische Nationalstaatsbildung miteinander zu vergleichen und dabei ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten, zählte bereits in den späten 70er und frühen 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts zu den bevorzugten Themen der italienischen Risorgimento-Historiographie sowie der mit Fragen der deutsch-italienischen Beziehungen befassten deutschsprachigen Historiker. Beispielhaft sei hier an die – in der Reihe des hiesigen Instituts – von Rudolf Lill, Franco Valsecchi bzw. Nicola Matteucci zum Nazionalismo in Italia e Germania (1983) bzw. zum Liberalismo in Italia e Germania (1980) herausgegebenen Bände erinnert.

Dass sich der vormalige Direktor des Italienisch-deutschen historischen Instituts in Trient, Gian Enrico Rusconi, dieses «alten» Themas erneut angenommen hat, ist zweifellos der wissenschaftlichen Tradition und dem genius loci des Trentiner Instituts selbst zu verdanken, andererseits aber wohl auch der 150-jährigen Wiederkehr der Gründung des italienischen Einheitsstaates im Jahr 2011, die ja in zahlreichen wissenschaftlichen und öffentlichen Veranstaltungen mit grosser Breitenwirkung zelebriert wurde, und der auch die vorliegende ebenso quellengesättigte wie theoretisch fundierte Studie einen eindrucksvollen Tribut zollt.

Rusconi geht es in seinem Vergleich, in den er zugleich auch den gegenwärtigen Umgang mit der jeweiligen Vergangenheit im heutigen Deutschland und im heutigen Italien einfließen lässt, sehr viel weniger um ideologische Bewegungen wie Liberalismus und Nationalismus oder um die Unterschiedlichkeit der beiden politischen Systeme des 19. Jahrhunderts; stattdessen will Rusconi die zwei – durch Cavour und Bismarck verkörperten – unterschiedlichen Typen von politischer Leadership einander gegenüberstellen, die zwar ähnliche Ziele, diese aber mit verschiedenen Mitteln und auf unterschiedlichen Wegen verfolgten. Ausgehend von der zeitlichen Differenz von zehn Jahren, die zwischen der italienischen und der deutschen Nationalstaatsgründung liegen, interessiert Rusconi insbesondere die Frage, inwiefern das italienische Modell (Cavour) als Vorbild oder als abschreckendes Negativbeispiel für den Schöpfer des deutschen Einheitsstaates (Bismarck) gedient habe – und wie die Zeitgenossen (zumal in Deutschland mit Blick auf Cavour) die Unterschiede zwischen den beiden politischen Führungspersönlichkeiten wahrgenommen haben. Zur Grundlage dienen Rusconi dabei vorwiegend die (publizierten) Primärquellen aus der Feder seiner beiden Protagonisten selbst, aber auch andere zeitgenössische Briefe und Schriften, wie beispielsweise von Heinrich von Treitschke, Max Duncker, Hermann Baumgarten, Ernst Ludwig Gerlach oder etwa auch August Ludwig Rochaus Grundzüge der Realpolitik (ein Begriff im Übrigen, den Rusconi beispielhaft für den Vergleich zwischen den beiden «Realpolitikern» durchdekliniert).

Der Autor beschränkt sich nun freilich nicht darauf, die naheliegende und keineswegs neue Unterscheidung zwischen dem «Liberalen» Cavour, der ausschließlich auf die längere, aber sicherere via parlamentare setzte, und dem Machtpolitiker Bismarck, der die staatliche Einigung «mit Blut und Eisen» herbeiführte, noch ein weiteres Mal zu thematisieren. Stattdessen geht es ihm vor allem um den Wandel in der Wahrnehmung der deutschen «liberalen» Öffentlichkeit, die zu Beginn, nach dem Erfolg des italienischen Modells, einen deutschen Cavour erträumt, nach Königgrätz aber sehr rasch bereit ist, dem Bismarck’schen Weg zu folgen, hinter dem das Idol Cavour allmählich verblasst. Rusconi selbst ist sich dabei der Problematik solch einseitiger Zuschreibungen durchaus bewusst, zeichnete sich doch Cavour nicht minder durch kriegerische Ambitionen aus (das berühmte Zitat aus seinem Mund: für die italienische Frage – und gegen Österreich – gebe es nur eine Lösung, nämlich die Kanonen, wird leider nicht genauer belegt) und gilt ihm doch Bismarck umgekehrt (mit Lothar Gall) als «weißer Revolutionär», der zwar nicht die soziale, wohl aber die politische Ordnung – ebenfalls gegen Österreich – umstürzen will.

Dem Autor gelingt es vorzüglich, «Realgeschichte» und «Diskursgeschichte» insofern miteinander zu verbinden, als er in den beiden Hauptkapiteln zu den beiden «Fällen» Italien und Deutschland die Darstellung der konkreten Ereignisse immer wieder den jeweiligen (insbesondere deutschen) Reaktionen darauf gegenüberstellt. Die im Einleitungskapitel zu Recht betonte Notwendigkeit, beide Staatsbildungen auch als europäisches Phänomen zu begreifen und dabei insbesondere die Rolle Frankreichs nicht zu unterschätzen, gerät freilich angesichts der Zuspitzung der Fragestellung auf die beiden Protagonisten und den politischen Typus, den sie verkörpern, für längere Zeit aus dem Blickfeld; sie kehrt erst im dritten Synthese-Kapitel wieder, in dem es (auch) darum geht, unter welchem Etikett der Staatsstreich Napoleons III. (wiederum mit Blick auf die politische Modellhaftigkeit für die beiden Protagonisten selbst) von den Zeitgenossen wahrgenommen wurde.

In eben diesem dritten und letzten Kapitel werden die beiden Modelle – «Cavourismo» und «Bismarckismo» – bilanzierend einander gegenübergestellt: Besonders hier lässt sich die Affinität des Politologen Rusconi zur politischen Theoriebildung sehr deutlich erkennen. Erneut wird die Frage der (beiden Protagonisten zugeschriebenen) «Realpolitik» erörtert – und es werden zwei weitere «Ismen» eingeführt («Cesarismo» und «Bonapartismo») sowie deren Funktion im Diskurs der deutschen Liberalen (und Konservativen) analysiert. Ob freilich «Cesarismo» und der (wohl nur) von Heinrich v. Treitschke benutzte Begriff «Cäsarenthum» deckungsgleich sind, und ob nicht überhaupt hier eine spätere vor allem italienische Debatte den Zeitgenossen in den Mund gelegt wurde, scheint mir freilich kritischer Überlegungen Wert zu sein.

Als ein Fazit unter anderen sieht Rusconi den italienischen Weg (und Cavour) unmittelbar am westlichen liberalen Nationalstaat orientiert, während das preußisch/deutsche Modell (Bismarck) sowohl «anti»-, als auch «anders-westlich» sein wollte (womit die These vom deutschen «Sonderweg» einmal mehr bestätigt wäre). Zuzustimmen ist Rusconi allerdings in seinem abschließenden Befund, dass die bislang oft insinuierte direkte Kontinuität «von Bismarck zu Hitler» in der deutschen Vergangenheitsbewältigung zu kurz greift und dass Deutschland gut daran tut, sich «neu zu erfinden», gerade auch mit einem differenzierten Blick auf Bismarck und seine zeitgenössische (und spätere) politische und historiographische Rezeption. Sehr viel pessimistischer sieht der Autor den heutigen Umgang mit Cavour in Italien, wo sich Rusconi «jenseits des nationalen Mythos» und jenseits der von ihm diagnostizierten Indifferenz (die Jubiläumsfeierlichkeiten des Jahres 2011 scheinen diese allerdings zu widerlegen!) eine bewusstere, an den nach wie vor aktuellen politischen Werten Cavours orientierte Geschichtskultur wünscht.

Für den/die Leser/in dieser anregenden Studie bleiben umgekehrt nur zwei Wünsche offen: der nach einem genauen Quellen- und Literaturverzeichnis, das hier, wie so oft in italienischen Publikationen, schlicht und einfach in den Fussnoten versteckt bleibt (und auch dort auch noch mit der Unsitte «cit.» dem mühsamen Suchen nach dem Erstzitat preisgegeben wird) sowie die genaueren Belege für mehr oder weniger bekannte Worte aus dem Munde Cavours, die man zwar in seinem Epistolario vermuten, nicht aber mit konkretem Nachweis auffinden kann.

Die Frage, ob eine etwas intensivere Einbeziehung der österreichischen Geschichte und ihrer politischen Protagonisten (von Buol über Rechberg zu Beust) über die doch etwas verkürzte Etikettierung Österreichs als «gemeinsamer Gegner» hinaus, nicht zusätzliche Facetten in die Überlegungen einbringen hätte können, muss hypothetisch bleiben.

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