Reviewer Pascal Oswald - Universität des Saarlandes
CitationNicht ohne Grund hat Luigi Ganapini das Mailand des Bienniums 1943-45 als «doppia capitale»[1] bezeichnet: als Sitz des Comitato di Liberazione Nazionale Alta Italia war diese von ähnlich herausragender Bedeutung für die Resistenza wie als Operationsgebiet der Legion «Ettore Muti» und der achten Brigata nera «Aldo Resega» für die Repubblica Sociale Italiana (RSI); am 14. Oktober 1944 zog das Sekretariat des Partito fascista repubblicano aus Maderno in die lombardische Hauptstadt um; zudem hielt hier Mussolini im Dezember 1944 seine berühmte Rede im Teatro Lirico und versammelte sich mit seinen letzten Getreuen, bevor er auf seiner Flucht am Comer See von Partisanen festgehalten und hingerichtet wurde.
Bereits 1980 erschien der zwischen Erinnerungszeugnis und Chronik schwankende Band Una città nella bufera. Milano 25 luglio 1943-25 aprile 1945 aus der Feder Giorgio Vitalis. Zudem hat Luigi Borgomaneri den mailändischen Grupppi d’Azione Patriottica (GAP) in jüngerer Vergangenheit eine Monographie gewidmet[2]. Marco Cuzzi legt nun unter dem Titel Seicento giorni di terrore a Milano mit dem Untertitel Vita quotidiana ai tempi di Salò ein neues Buch vor, das die Zeit von RSI und deutscher Besatzung 1943-45 in Mailand behandelt. Man vermisst eine Einleitung, in der Cuzzi seinen Leserinnen und Lesern die Zielsetzung und den Zuschnitt seines Buchs erläutert. Nach der Lektüre wird deutlich: Zwar blendet auch Cuzzi die Resistenza nicht aus, doch legt er den Fokus in erster Linie auf die republikanischen Faschisten, in zweiter Linie auf die psychologischen wie materiellen Lebensbedingungen der Zivilbevölkerung. Neben der Konsultation einer umfangreichen Menge an Sekundärliteratur und edierten Quellen (die Bibliographie am Ende des Buchs umfasst knapp 15 Seiten) hat Cuzzi auch zehn Archive besucht und dabei insbesondere interessante Polizeiberichte ans Licht gebracht.
Die umfangreiche Darstellung, die im Sommer 1943 einsetzt und bis zur Abfahrt Mussolinis aus Mailand am späten Nachmittag des 25. April reicht, folgt weitgehend der chronologischen Ordnung. Cuzzi liefert keine bloße Stadtgeschichte, sondern geht immer wieder auf den zeitgeschichtlichen Kontext ein, auf nationaler wie seltener auch internationaler Ebene. Was die Zeit unmittelbar nach dem 8. September angeht, beschreibt Cuzzi das Alltagsleben und die Geschehnisse in Mailand detailliert; eine tiefere Analyse der psychologischen Auswirkungen des 8. Septembers auf die Bevölkerung wäre durch die Verwendung der im Archivio di Stato di Milano aufbewahrten und für den Zeitraum September bis November 1943 erhaltenen Berichte der Commissione provinciale di censura postale möglich gewesen. Grundsätzlich hätte sich für den Aspekt der psychologischen und materiellen Lebensbedingungen der Zivilbevölkerung auch das Heranziehen entsprechender Tagebücher im Archivio diaristico nazionale in Pieve Santo Stefano als lohnend erweisen können.
Cuzzi erläutert die Rückkehr des Faschismus im republikanischen Gewand in Mailand und beschreibt ebenso die polykratische Struktur der deutschen Besatzungsherrschaft in der Metropole wie die Ausbeutung der ökonomischen Ressourcen durch die Deutschen, die er als die «veri padroni» (S. 63) der Stadt bezeichnet. Detailliert fällt auch seine Schilderung des beginnenden Bürgerkriegs aus, der in Mailand mit dem erfolgreichen Attentat auf den commissario federale Aldo Resega am 18. Dezember 1943 und der anschließenden Erschießung von 8 Häftlingen aus dem Kerker «San Vittore» als Repressalie einen ersten Höhepunkt erreichte. Trotz deutscher Besatzung und alliierter Bombardierungen setzten sich Alltag und Vergnügungen in Form von Kino- und Theaterbesuchen fort. Als großes Problem Mailands während der 600 Tage von Salò erwies sich die wild um sich greifende Kriminalität, der die Polizei- und Repressionskräfte der RSI keinen Einhalt zu bieten vermochten. Letztere neigten nicht selten zu einem politischen Doppelspiel, wie Cuzzi anschaulich erklärt. Das Buch führt zudem die unerträglichen Haftbedingungen im deutsch kontrollierten Teil von «San Vittore» vor Augen, beschreibt die Verwaltung durch den capo della provincia Piero Parini sowie die prekären materiellen Lebensbedingungen in der Stadt und zeigt, dass die Propaganda des republikanischen Faschismus bei der eher feindlich gesinnten mailändischen Bevölkerung letztlich keinen Erfolg zeigte. Cuzzi geht auch auf das Ende der ersten mailändischen GAP durch die Infiltration vonseiten der Guardia nazionale repubblicana und die Streiks vom März 1944 ein. Die doppelte Bedrohung durch Alliierte und Nationalsozialisten wie Faschisten zeigt Cuzzi einerseits anhand der Luftangriffe, insbesondere der verheerenden Bombardierung der Grundschule «Francesco Crispi» im Stadtteil Gorla, andererseits etwa anhand des Massakers vom Piazzale Loreto auf, wo die Zurschaustellung der Leichen der hingerichteten Partisanen fatale Auswirkungen auf die «Volksmeinung» hatte. Hinsichtlich des republikanischen Faschismus beleuchtet er ferner die Rolle der mailändischen achten Brigata nera «Aldo Resega», der ersten Italiens, das brutale Treiben der «Banda Koch» und den Besuch Mussolinis in Mailand im Dezember 1944, bevor er die mailändische Shoah, die schlechten Lebensbedingungen während des Winters 1944/45 und das erstarkte Wiederaufflammen des Bürgerkriegs Anfang 1945 thematisiert. Ausführlich erläutert werden ebenso das Projekt des «Ridotto alpino repubblicano», das die Valtellina als letzte Bastion vorsah, wie die vielfältigen Bemühungen der «pontisti», eine «Brücke» zwischen Antifaschismus und Faschismus zu schlagen. Die Darstellung schließt mit den letzten Wochen des republikanischen Faschismus in Mailand und einem Kapitel zu den turbulenten Ereignissen des 25. April.
Bei aller Fülle des Erzählerischen, das sich auch im Gebrauch des historischen Präsens widerspiegelt, vermisst man an mancher Stelle die Analyse. Cuzzis Buch enthält viel Anekdotisches und hat gewisse Längen, etwa wenn enzyklopädisches oder biographisches Wissen ausgebreitet wird. Insgesamt handelt es sich jedoch um einen gelungenen Forschungsbeitrag.
[1] L. Ganapini, La repubblica delle camicie nere, Milano, Garzanti, 2002, S. 281.
[2] Vgl. G. Vitali, Una città nella bufera. Milano 25 luglio 1943–25 aprile 1945, Milano, Mursia, 1980; L. Borgomaneri, Li chiamavano terroristi: storia dei Gap milanesi (1943–1945), Milano, Edizioni Unicopli, 2015.