Reviewer Eva Gajek - Universität Giessen
CitationWenn die Kugel beim Roulette auf dem roten oder schwarzen Feld stehen bleibt, gibt es zumindest in diesem einen Moment des Glückspiels eindeutige Gewinner*innen und Verlierer*innen. Für gesellschaftliche, soziale und ökonomische Phänomene ist diese starre Einteilung nicht so einfach zu treffen. Diese Bedenken legt Morten Reitmayer zu dem hier zu besprechenden und mit Christian Marx 2020 herausgegebenen Sammelband Gewinner und Verlierer nach dem Boom. Perspektiven auf die westeuropäische Zeitgeschichte direkt zu Beginn in seiner Einleitung offen. Er sensibilisiert für die Frage nach der Bemessung, also was überhaupt als Gewinn und Verlust verstanden werden kann und damit für die Gefahr, «subjektive(n), ja parteiische(n) Bewertungen» (S. 8) an den zu untersuchenden Gegenstand anzulegen. Dass diese beiden Begriffe das Motto des 50. Historikertages waren, bei dem einige der Beiträge in einem Panel bereits diskutiert wurden, erklärt das Festhalten an diesen Begrifflichkeiten aber nicht allein[1]. Der Sammelband sieht in der Verwendung dieser beiden Kategorien vielmehr die Chance, «Dynamiken und Wechselwirkungen in der Zeitgeschichte europäischer Gesellschaften sichtbar» (S. 8) zu machen und das – soviel sei direkt zu Beginn der Rezension bemerkt – gelingt ihm in vielfacher Weise gut.
Dazu tragen neun Beiträge bei, die sich auf ganz unterschiedliche Gegenstände und Räume konzentrieren, aber alle die Zeit «nach dem Boom» in den Fokus nehmen, demnach die Zeit, in der sich in Westeuropa viele frühere Industrie-zu Dienstleistungsgesellschaften entwickelten. Um ihre Ergebnisse zu schärfen, greifen nicht wenige Autoren und Autorinnen des Bandes auf den Zeitausschnitt davor zurück. Gerade dadurch gelingt es ihnen, den Wandel und die Differenzen der Zeitspanne einzufangen, aber eben auch die starre zeitliche Begrenzung der Zeitspanne zu hinterfragen. Sie differenzieren dadurch das Bild einer Epoche, die vielfach durch die Abgrenzung zu der Zeit davor ihre Konturen gewann: Die Zeit des «Booms», der – so eine weitverbreitete, wenn auch bereits hinterfragte Deutung – viele Gruppen zu Gewinner*innen gemacht habe und auf die eine Zeit von ökonomischen und sozialen Krisen folgte. Solch eine in der Forschung ebenfalls bereits hinterfragte Krisensemantik brechen auch die Beiträge des Sammelbandes weiter auf. Keineswegs verharren sie hierbei in einem Vergleich, der sich an den zahlreichen Ergebnissen zu den 1960er und 1970er Jahren abarbeiten. Sie leisten vielmehr einen wichtigen Beitrag, wie die Zeit ab Mitte der 1970er, verstärkt der 1980er und mit wenigen Ausblicken auch die 1990er Jahre in ihrer eigenen Beschaffenheit erforscht werden können, sensibilisieren für methodische Probleme und weisen auf das Potential hin, der Epochensignatur eine eigene und spezifische Deutung zu geben. Und das gelingt gerade deshalb, weil sich die Beiträge auf die beiden Seiten der Medaille, also auf Gewinner*innen und Verlierer*innen, konzentrieren.
Thematisch, methodisch und räumlich sind die Beiträge breit aufgestellt. Lokalstudien zu der Wirtschaftsregion Stuttgart und deren Strukturwandel (Bonaldo), zur Veränderung der Arbeitswelt im Zuge der Transportrevolution durch Container im Hamburger Hafen (Neumann) oder zur Mobilisierungsarbeit der SPD in Frankfurt (Meyer) finden sich genauso darunter wie zu einzelnen westeuropäischen Staaten. Stefanie Middendorf untersucht die Klassifikationen der französischen Kulturpolitik, Timo Kupitz die politische Emanzipation der bengalischen Migranten im Vereinigten Königreich, Tobias Vetterle den Formwandel der umweltpolitischen Partizipation in Luxemburg. Drei Beiträge erweitern den Blick zudem durch größere Vergleiche und transnational angelegte Untersuchungen innerhalb Westeuropas. Während sich Lutz Raphael in seiner Analyse zu der Transformation der industriellen Arbeitswelt auf den Vergleich zwischen Frankreich, der Bundesrepublik und Großbritannien konzentriert, erweitert Christian Marx dieses Spektrum in seiner Untersuchung zu der Multinationalisierung der Chemie- und Pharmaunternehmen noch durch die Niederlande. Eva Maria Klos beschäftigt sich mit den erinnerungspolitischen Strategien der Verbände der zwangsrekrutierten Wehrmachtssoldaten im Elsass, in Luxemburg und Belgien und geht den Kämpfen um Anerkennung und Entschädigung nach. Die Konzentration auf den westeuropäischen Raum ist eine analytische Stärke des Sammelbandes, der die Ergebnisse für die Epochensignatur verdichtet, gleichzeitig aber auch Fragen nach den osteuropäischen Entwicklungen und der Vergleichbarkeit innerhalb Europas wachruft.
Die Beiträge kommen für ihren jeweiligen Gegenstand zu interessanten und zahlreichen Ergebnissen, die hier im Einzelnen nicht aufgeführt werden können. In der Zusammenschau lassen sich aber folgende übergeordnete Befunde festhalten, die das Bild der Epoche «Nach dem Boom» weiter zu konturieren helfen. Denn die politische Ökonomie hat auf der einen Seite lange Zeit das Bild der Epoche bestimmt und hierbei eine deutliche Kräfteverschiebung von der Arbeit hin zum Kapital ausgemacht. Auf der anderen Seite hat gerade die Ungleichheitsforschung ein deutliches ökonomisches und soziales Auseinanderdriften der Gesellschaft für genau diese Zeit vielfach betont. Die Beiträge erweitern diese Ergebnisse erheblich durch empirisch gesättigte Untersuchungen und sensibilisieren gerade in ihrer Gesamtheit dazu, die Facettenhaftigkeit solcher Prozesse zu analysieren. Dabei zeigen sie auf recht unterschiedliche Weise, dass insbesondere die kritische Auseinandersetzung mit diesen Prozessen in der Zeit selbst aufschlussreiche Perspektiven eröffnet. Sie richten damit den Blick auf die Handlungsspielräume, die Widerstände, den Protest und problematisieren damit auch das Spannungsverhältnis zwischen den Selbst- und Fremdbildern von Gewinner*innen und Verlier*innen. Die Frage, wer auf Verluste reagieren oder gegen sie protestieren konnte, eröffnet sich als interessante neue Kategorie in der Vermessung von Gewinner*innen und Verlier*innen der Epoche. Damit lädt der Sammelband zum Weiterdenken ein, nicht nur über diese beiden Begrifflichkeiten, sondern auch über die Epochensignatur selbst. Denn gerade die Beiträge, die die 1990er Jahre einschließen, eröffnen noch einmal einen anderen Blick. Wie die Kugel im Roulette bei der nächsten Runde kann dieser zeitlich geweitete Blick die Einteilung in Gewinner*innen und Verlierer*innen nach dem Boom umstoßen, sie wird vielmehr zur spezifischen Momentaufnahme und damit erklärt sich die Zeit «Nach dem Boom» eben nicht nur aus dem Davor, sondern auch aus dem Danach.
[1] Siehe hierzu den Tagungsbericht von Reinhild Kreis: https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-5631