Reviewer Gabriele Clemens - Universität des Saarlandes
CitationMit diesem Buch legt Laura di Fiore, eine der ausgewiesensten Historikerinnen der süditalienschen Risorgimentogeschichte, eine anregende Studie zum politischen Überwachungsapparat des bourbonischen Königsreichs vor. Die Grundlage bietet eine ganz hervorragende Quellenüberlieferung in staatlichen und privaten Archiven. Im Zentrum steht der Nexus von Polizei und Politik. Der Ursprung der politischen Polizei ist im revolutionären Frankreich zu verorten. Mit der Eroberung Süditaliens durch die napoleonischen Truppen und der Schaffung des Königreichs Neapels wurde das von Napoleon neu organisierte Polizeiwesen importiert. 2017 hat Jacques-Olivier Boudon zu diesem Thema mit seinem Buch „L’Empire des polices. Comment Napoléon faisait régner l’ordre“ eine grundlegende Studie vorgelegt, in der er sich vor allem auf die Organisation und die Akteure konzentriert. Laura De Fiore wählt einen ganz anderen Ansatz, sie interessiert vielmehr die Seite der Betroffenen, der Umgang mit ihnen und ihre Verunglimpfung, dabei bedient sie sich des neueren Forschungsansatzes der Surveillance Studies. Völlig zu Recht, verweist sie auf eine bestehende Forschungslücke. Während zu dieser Materie vergleichsweise viele Studien zum Ancien Régime und zum 20. Jahrhundert vorliegen, gibt es deutlich weniger Arbeiten zum langen 19. Jahrhundert.
Die Monographie besteht aus zwei Teilen. In den ersten Kapiteln geht Di Fiore der Entstehung der politischen Polizei zu Zeiten der Könige Joseph und Murat (1806-1815) und den sich anschließenden Diskussionen während der ersten Restauration über dieses System nach. Im zweiten Teil des Buches stehen die konkreten Überwachungsmaßnahmen nach der Revolution von 1848-1849 und die letzten zehn Jahre der bourbonischen Herrschaft im Zentrum, in denen eine deutliche Verschärfung und Verbesserung der polizeilichen Maßnahmen zu verzeichnen ist. Die Einführung des französischen Polizeimodells 1806 bedeutet einen wirklichen Wendepunkt, zuvor bestand ein Zuständigkeitsdschungel von Verwaltungen, Institutionen und Personen, in der napoleonischen Zeit wird das Polizeiwesen zentralisiert und alle Aufgaben werden einer staatlichen Institution anvertraut. Nach der Wiederkehr der Bourbonen ist von einer großen Kontinuität bezüglich der Organisation auszugehen. Die Polizei ist fortan dem Innenministerium unterstellt. Ein unabhängiges Polizeiministerium bestand lediglich in den Krisenjahren 1848-1852. In Kapitel I werden verschiedene theoretische Vorschläge und Projekte zur Reorganisation der Polizei analysiert, etwa sie direkt dem König zu unterstellen oder Reflexionen über das komplizierte Verhältnis von Gesetzen und Rechten, Diskretion, der mobilen Zone zwischen Legalität und Missbrauch, Natur und Grenzen der Macht sowie die Verteidigung der Polizei gegenüber den Liberalen. Es handelt sich hierbei um publizierte Projekte oder schriftliche Plänen von hohen Beamten, die sich mehr Macht und Einfluss sichern wollen. Häufig schließen sie an aufklärerische Diskurse an.
Richtig spannend wird es dann ab Kapitel III. Der Polizei wird 1848 Versagen vorgeworfen, sie habe keine systematische Kontrolle ausgeübt. Von nun steht die angestrebte Überwachung der modernen Gesellschaft im Fokus der patriarchalischen und politischen Polizei. Sofort werden Listen angelegt von Personen, die verdächtigt sind, mit dem Nationalstaat zu sympathisieren oder die als liberal gelten. Die Polizei wird reorganisiert und die systematische Erfassung von Verdächtigen ausgeweitet. Als erstes trifft es die Beamten, die als unsichere Kantonisten gelten. Von allen, die ein öffentliches Amt bekleiden, wird politische Zuverlässigkeit erwartet. Es kommt zu Säuberungswellen in der Verwaltung. Nationale Gesinnungen, sogenanntes „schlechtes“ politisches Verhalten oder eine nicht „korrekte“ Moral führen zur Entlassung. Die Beamtentabellen werden erweitert um die Kategorie: politische Haltung. Fortan soll die öffentliche Meinung engmaschig überwacht werden, vor allem in Neapel. In der Residenz werden für jedes Viertel Listen der Verdächtigen angelegt, nun soll alles strukturierter, bewusster und effizienter werden. Immer wieder wird wie in Mailand kleinlich über demonstrativen Zigaretten- und Zigarrenverzicht berichtet, da dies weniger staatliche Einnahme aufgrund abnehmender Tabaksteuer verursacht und eine beliebte Form des politischen Protests darstellt. Spione werden auf öffentlichen Plätzen und in Cafés eingesetzt und das Theater regelmäßig von Kommissaren überwacht. Die Vorzensur findet im Buch keine Beachtung, aber die Kontrolle im Saal, weil hier aufgrund von Emotionen (Tränen, Lachen), Pfiffen, Beifall und Zugabeforderungen politische Inhalte in einer meist elitären Öffentlichkeit kommuniziert werden können.
Im darauffolgenden Kapitel fokussiert Di Fiore die transnationalen Aspekte der Polizeiarbeit. Nach der gescheiterten Revolution wird nicht nur die im Königreich lebende Bevölkerung systematischer überwacht, sondern auch die zahllosen süditalienischen Exilanten, die sich im Königreich Piemont, der Schweiz, in Frankreich, England, vor allem aber in Griechenland und im Osmanischen Reich aufhalten. Während das auf die Revolutionen von 1820-1821 Exil gut erforscht ist, bestehen für die Zeit nach 1850 noch große Forschungslücken. Auf die süditalienischen Exilanten wird im Ausland zum einen ein regelrechtes Spionagenetz angesetzt und die Post kontrolliert, zum anderen werden auch Konsuln und Botschafter ausnahmslos angehalten, die Exilantengemeinden scharf zu beobachten. Die Diplomaten konnten aufgrund der von ihnen auszustellenden Pässe sehr genau über die Aufenthaltsorte der gefürchteten Liberalen und Demokraten Auskunft geben. Außerdem beliefert sie die jeweilige örtliche Polizei großzügig mit Informationen. Die bedeutende Rolle des Mittelmeers als Aktionsraum für die politischen Flüchtlinge ist evident. Besonders scharf überprüft man ferner Reisende nach Neapel. Die Verantwortlichen verknüpfen die Kontrolle des Territoriums und die transnationale Überwachung auf das Engste miteinander. In Einzelfällen üben die Diplomaten so viel Druck auf die Regierungen der Gastländer aus, dass die Exilanten das Land verlassen müssen, auch dies ist gängige europäische Praxis.
Im letzten Kapitel werden die Diskurse und Bilder, welche die Spione, Beamten und Diplomaten von den Regimegegnern transportieren, fokussiert. Deutlich wird auch hier wieder die enge Verzahnung von Politik, Moral und Religion. Die folgenden Etikette charakterisieren die Exilanten stereotyp in den Berichten: sie seien sehr anhänglich (an die liberale Sache), Hitzköpfe, aufbrausend und enthusiastisch, betrunken von liberalen Prinzipien, Sektierer, Demagogen, Verächter der göttlichen Gesetze oder schlicht Atheisten. Der Epilog dieses sehr lesenswerten, quellengesättigten Buches bietet einen interessanten Ausblick auf die Zeit nach der Nationalstaatsgründung. Nun stehen die Anhänger der abgesetzten Bourbonen unter polizeilicher Überwachung, wobei nur bei dringendem Konspirationsverdacht eingegriffen wird, da sich die Anhänger der Königsfamilie häufig aus den Eliten des Landes rekrutieren, und ihnen gegenüber ist Vorsicht geboten. Unter Beobachtung stehen weiterhin die Demokraten und die sogenannten "Murattisten", die den Sohn von Murat, Luciano, auf den Thron heben wollen.