Reviewer Marco Mondini - Università di Padova- Isig
CitationDie hundertjährige Wiederkehr des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges hat auch in Italien zu einem erneuerten Interesse an den Ereignissen der Jahre 1914-1918 geführt. Sichtbarstes Anzeichen dieses Interesses ist naturgemäß die Anzahl der erschienenen Publikationen. Im Unterschied zu Frankreich, Deutschland und Großbritannien sind allerdings die Herausgeber in Italien insgesamt weniger aktiv gewesen. Eine wichtige Ausnahme stellt der Verlag Il Mulino dar, der eine Reihe von wissenschaftlichen Werken druckte, während sich die anderen Verleger in Italien, wie Laterza oder Einaudi, auf den Wiederabdruck von schon erschienenen Werken oder Übersetzungen von stark populärwissenschaftlichen Beiträgen beschränkt haben, die im Ausland einen gewissen Erfolg gezeitigt hatten. In den wenigsten Fällen haben solche Texte viel zur Vermehrung des Wissenstandes der Italiener um den Ersten Weltkrieg beigetragen. Teilweise, etwa im Falle von Aufsätzen, mit denen Journalisten betraut wurden, die ihre Aufgabe in der «Neuerfindung» der Geschichte sehen, haben die Publikationen gar zur Verhärtung von Stereotypen und zur weiteren Streuung schon verbreiteter Banalitäten geführt.
Die Storia intima della Grande Guerra von Quinto Antonelli gehört hingegen zu der geringen Anzahl von Werken, die sich in seriöser und innovativer Weise darum bemühen, das kritische Bewusstsein und die Wahrnehmung der Ereignisse zu schärfen, die sich vor einem Jahrhundert abspielten. Selbstredend ließe sich einwenden, die Veröffentlichung von tagebuchartigen Aufzeichnungen von so genannten «Subalternen» – zumeist einfachen Soldaten aus dem Volk – stelle natürlich keine Neuheit im historiographischen Panorama Italiens dar. Seit dem Beginn der Achtzigerjahre sind, gerade innerhalb einer Forschungsrichtung, für die Quinto Antonelli besonders steht, die «scritture popolari» das am besten bearbeitete Feld innerhalb der Forschungen zum Ersten Weltkrieg. In einer Zeit, als die italienischsprachige Geschichtswissenschaft in Europa hoch angesehen war, zumindest bis zur Mitte der Neunzigerjahre, gehörte es zweifelsohne zu den fruchtbarsten Herangehensweisen in der Erforschung der Jahre 1914-1918, den Aufzeichnungen von Zeitzeugen nachzugehen, die weitgehend auf unmittelbaren, wenig oder gar nicht bearbeiteten Erfahrungen (dies ist der Unterschied zwischen «Tagebuch» und «Erinnerungsschrift») basierten, die mithin wenig durch die distinguierten Ansprüche der literarischen Kultur gefiltert waren. Angesichts dieser verfestigten Tradition, die allerdings in ihrer manichäischen Sicht eines Dualismus von Subalternen und der Welt der Gelehrten, zwischen «Opfern» und «Tätern», ab einem gewissen Punkt ideologisch eingefärbt ist, stellt Antonellis Buch einen bemerkenswert großen Fortschritt dar.
An erster Stelle lässt sich dies behaupten, weil Antonelli, im Unterschied zu einem Großteil der italienischen Spezialisten, die internationale Geschichtswissenschaft wahrnimmt und die enormen Fortschritte auf dem Gebiet der Konfliktforschung sowie der Textanalyse berücksichtigt, die seit dem Aufkommen der Kulturgeschichte des Krieges etabliert worden sind. Um lediglich ein Beispiel zu geben: Die angebliche «Authentizität» («genuinità») der Tagebücher von Männern aus dem Volk, die der Rhetorik institutioneller Schriften aus dem Bürgertum entgegengesetzt wird, ist eine jener Wertungen, welche die Historiker lange Jahre daran gehindert haben, die Komplexität des Phänomens der Mobilisierung von Kriegskulturen und den Grad ihrer in vielerlei Hinsicht spontanen Verbreitung zu erkennen. Antonelli hingegen berücksichtigt auf angemessene Weise die Herausforderungen der «Ego-Dokumente», sowohl unter methodologischem Gesichtspunkt als auch in Bezug auf die Möglichkeit, aus ihnen die Schreiberfahrungen der Soldaten im Kontext der kollektiven Reflexion des Krieges in Italien zu erfassen. Dadurch gelingt Antonelli mit seinem einleitenden Kapitel («Grande guerra e popolo», S. 3-56) die beste Analyse autobiographischer Dokumente und der Sprache des Krieges, die in Italien bis heute vorgelegt wurde. Der zweite Grund für die oben vorgenommene Wertung ist die beispiellos unverstellte und breite Perspektive der Storia intima. Bis vor Kurzem bestand ein Charakteristikum der Sammlungen von Schriften «aus dem Volk» – oder zumindest von Tagebüchern und Kriegsmemoranden – in ihrem ausschließlichen und lokalen Zuschnitt. Meist das Ergebnis von Nachforschungen in lokalen Bibliotheken und Archiven, trugen die Publikationen der letzten Jahrzehnte oft Zusätze wie «Die Soldaten aus …» im Krieg, oder «die Bauern aus …»: Der Resonanzraum war fast immer lokal (und oft auch sozial) begrenzt, als wenn eine breitere Perspektive auf eine forciert vielgestaltige Kriegserfahrung einen Affront gegen die lokalen Geschichtsvereine und Gelehrten darstellen würde, deren Ziel es vor allem war, den resignierten und feindlichen Blick der armen Opfer darzustellen. Einer solchen Versuchung zur zwanghaften Reduktion ist Antonelli in keinem der vierzehn Kapitel seiner Anthologie erlegen. Selbstredend handelt es sich, wie der Autor von Beginn an verdeutlicht, um eine Anthologie, «die klare und deutliche Linien aufweist: Die ausgewählten Texte stammen von subalternen Soldaten, es sind fast nie Offiziere. Die Texte sind sozial konnotiert …, sie sind im Bereich der Schriften von «Männern aus dem Volk» anzusiedeln, sie respektieren fast nie die orthographischen und syntaktischen Regeln» (S. XI). Dies bedeutet aber nicht, dass ihre Perspektive nicht erstaunlich weit wäre. Dies an erster Stelle aus dem Grund, weil der Blick sich somit auf den gesamten «sprachlichen Raum» Italiens weitet: von den «Italienern Österreichs», die zumeist in Galizien mit Verbänden der k.u.k. Armee kämpften, bis zu den «Reichsitalienern» («regnicoli»). Zweitens aus dem Grund, weil im Kaleidoskop der Biographien in mehr als hundert Texten viele unterschiedliche soziale und kulturelle Milieus, Weltanschauungen und Erfahrungen versammelt sind. Beginnend mit dem Oberleutnant Bruno Scarpocchi, der am 24. Mai beim Grenzübergang Wasser schöpft, um die vorrückenden Soldaten zu segnen, über den Kompaniefeldwebel Ettore Travostino, der einen prosaischen Konflikt bestehend aus Hausarbeit und Putzen in den Unterknüften beschreibt (der Schützengraben als «neues Zuhause» im Sinne der Historiker der Emotionen), und den Trientiner Giovanni Pederzolli, der davon erzählt, wie man einen Menschen tötet (aber auch von dem außergewöhnlichen Gefühl, wenn man in einem seltenen Akt des Erbarmens von einem Feind gerettet wird), bis hin zu Vitaliano Marchetti, der von Protest und Dissidententum berichtet. Selbstredend ist jede Anthologie per definitionem ein Werk, das Auslassungen und Auswahl mit sich bringt, und so ist es immer ein Leichtes, auf sie hinzuweisen. Doch es besteht kein Zweifel daran, dass Antonelli mit diesem Band einen bedeutenden Beitrag zu einem bisher zu lückenhaft bearbeiteten Aspekt der schriftlichen Erinnerung an Italien im Ersten Weltkrieg vorlegt.