Reviewer Fernanda Alfieri - FBK-ISIG
CitationIm Jahr 1743 wird ein junger Mann ins sienesische Hospital Santa Maria della Scala eingeliefert. Er hatte sich bei dem Versuch verletzt, zwei Frauen nach Rom zu bringen, nachdem er sie mit ihrem Einverständnis der Obhut ihrer Familien entrissen hatte. Es war nicht das erste Mal, dass sich der junge Mann namens Giovanni Bordoni aus emotionalen Gründen in Schwierigkeiten brachte. Aufgrund seiner unzügelbaren Passion für das zarte Geschlecht hatte er aus verschiedenen Städten flüchten müssen und dabei verführte und verlassene junge Frauen sowie wütende Väter zurückgelassen (Kapitel 1, 2). Deshalb rief es großes Erstaunen hervor, als sich nach seinem Tod herausstellte, dass sich hinter seiner männlichen Kleidung und seinem Namen eine Frau verbarg. Der aus Rimini stammende und in Bologna und Padua ausgebildete Anatomieprofessor an der Universität Siena, Giovanni Bianchi, wurde mit der Obduktion der Leiche beauftragt. Der Arzt, auf dessen Schriften die Geschichte von Caterina (Storia di Caterina) basiert, untersuchte ihren Körper nicht nur als Anatomiegelehrter. Er erforschte auch unter Hinzuziehung historischer Präzedenzfälle und kultureller Repräsentationen jene – in seinen Augen – außergewöhnliche Divergenz zwischen Körperlichkeit und Verhalten, zwischen «Natur» und Leidenschaft (Kapitel 3). Bianchi erschienen die «appetiti» der Caterina Vizzani (so der Name der jungen Römerin) «wahrhaft seltsam und unglaublich» («strani veramente e incredibili») (S. 167). Diese Worte sind im Incipit der Breve storia zu lesen, die unter Umgehung des imprimatur im Jahr 1744 veröffentlicht wurde. Mit dieser, im Anhang des zu besprechenden Bandes edierten Abhandlung teilte Bianchi den Fall dem internationalen Publikum der Mediziner mit. Für Bianchi bedeutete «seltsam» («strano»): nicht dem Erwartbaren entsprechend und von der Norm abweichend. Die seltsame Geschichte von Giovanni/Caterina ist die Quintessenz dessen: Eine junge Frau, in anatomischer und physiologischer Hinsicht perfekt, hatte schon immer (wie es die durch den Arzt unter den Angehörigen und Bekannten durchgeführte Befragung erwies) Ihresgleichen begehrt und die Liebe von Frauen gesucht, unabhängig von den Hindernissen der Regeln des Anstands (Kapitel 4). Bianchi sollte mit diesem seltsamen Fall Karriere machen. Für seine Zunft war das Außergewöhnliche des Falles nicht nur eine Herausforderung für die Wissenschaft, die nach reiflicher Überlegung ein nützliches Exempel für die Zukunft statuieren konnte. Das Außergewöhnliche des Falles – ein von Barbagli vielleicht nicht ausreichend betonter Umstand – lieferte auch eine willkommene Gelegenheit für den Arzt, sich in der wissenschaftlichen Gemeinde einen Namen zu machen. Auch wenn sein Kopfzerbrechen zu keinem Ergebnis führen sollte, so konnte er den Fall dennoch detailliert und literarisch schildern und mit einem gelehrten historischen Anhang versehen. Auf diese Weise konnte sich der Arzt den außergewöhnlichen Fall zu eigen machen und seine Person mit ihm verbinden. Der Bereich der weiblichen Pathologie genoss seit langem ein besonderes Interesse seitens der Medizin. Zu Lebzeiten Bianchis (im Jahr 1775 verstarb er) erfuhr dieses Interesse einen Aufschwung, sei es durch die Masse von Abhandlungen, die nun veröffentlicht wurden, sei es durch ihre immer größere Dichte und Detailliertheit. Briefwechsel, Veröffentlichungen gelehrter Akademien sowie die ersten medizinischen Zeitschriften waren angefüllt mit Beschreibungen weiblicher Anatomien von phänomenaler Monstrosität, mit Geschichten von jungen Frauen, die von Konvulsionen und spektakulärer erotischer Melancholie geplagt wurden. Michel Foucault hat dies in Der Wille zum Wissen (1976) als «Hysterisierung des weiblichen Körpers» bezeichnet: Er wird entweder mit Produktivität oder Mutterschaft, oder aber mit der destruktiven und stigmatisierbaren Eigenschaft der Sterilität (bedingt durch Körperlichkeit oder Verhalten) in Verbindung gebracht und somit bis zur Übersättigung sexualisiert. Die Geschlechtsorgane, verstanden als gute Gebärmaschine oder bösartige Jäger, prädestinieren die Frau für eine zugewiesene Identität und gesellschaftliche Position. Diese Sichtweise leitet auch die Untersuchung des Anatomiegelehrten Giovanni Bianchi, der sich auf die für ihn beweiskräftigen Elemente eines komplett unversehrten Jungfernhäutchens und einer normal ausgebildeten Klitoris konzentriert. Die Unversehrtheit des Jungfernhäutchens (Kapitel 5) beweist die Tatsache, dass Caterina alias Giovanni, ihrem häufigen Umgang mit Männern aufgrund des haushälterischen Berufs (eine Arbeit, die das häufige Übernachten am Ort mit sich brachte) zum Trotz, Jungfrau hatte bleiben wollen, oder besser gesagt, sich nicht Männern hatte hingeben wollen. Es war dies ein deutliches Anzeichen für einen ausgeprägten Willen, ein klares Indiz dafür, dass die Lei- denschaft dieses Individuum andernorts hinführte. Eine hypertrophe Klitoris – homolog zu dem männlichen Geschlechtsorgan im Hinblick auf Form und Funktion – hätte erklären können, warum Vizzani sich zu Frauen hingezogen fühlte und bei ihnen Erfolg hatte. Diese deterministische und – wie heute zu konstatieren ist – für eine männliche Sichtweise, die sich die eigene Ersetzbarkeit nicht erklären konnte (wie können sich zwei Frauen lieben?), beruhigende Erklärung hatte allerdings nicht empirisch bewiesen werden können. Die Obduktion hatte erwiesen, dass Caterinas Körper absolut «normal» ausgebildet war (Kapitel 6). Und auch wenn es sich sofort herausgestellt hatte, dass die Frau sich eine Apparatur gebaut hatte, die es ihr gestattete vorzugeben, sie sei ein Mann, und so mit den (unwissenden?) verführten Frauen den Beischlaf zu vollziehen (Kapitel 7), blieb der Urgrund ihrer Leidenschaft mysteriös. Wie also war dies zu erklären? Das Kopfzerbrechen führte zu keiner Lösung, doch Giovanni Bianchi nutzte bei der Gelegenheit seine vielbeschlagene literarische (für die Medizin vor ihrer klinischen Spezialisierung kennzeichnende) Gelehrsamkeit, um aus der Untersuchung der Geschichte von Caterina eine umfassende Studie zu erstellen, die auch im brieflichen Austausch mit einer großen Bandbreite an Korrespondenzpartnern über die unvorhersehbaren Ausprägungen menschlicher Liebe entstand. Diese Liebe verband im vorliegenden Fall eine widernatürliche Neigung mit verblüffender Beharrlichkeit: Caterina konnte keine Frauen lieben, aber sie suchte unablässig ihre Nähe. Bianchi konnte auf keine Präzedenzfälle aus dem medizinischen oder rechtlichen Gebiet zurückgreifen, und auch nicht auf normative Diskurse, innerhalb derer die sexuelle Nonkonformität möglicherweise behandelt worden wäre. Und doch, ebenso wie die seit dem Spätmittelalter mit der Definition des Tatbestandes der Sodomie unter Frauen befassten Juristen (Kapitel 8), stand Bianchi ein literarisches Instrumentarium zu Gebote, das es ihm ermöglichte, die Geschichte von Caterina nachvollziehbar zu machen, von Sappho, über die Gestalt der Iphis, die sich in den Metamorphosen Ovids in Ianthe verliebt, bis hin zu Fiordispina, die in Ariosts Orlando furioso für Bradamante entbrennt. Marzio Barbagli spürt den Fragen nach, die sich Bianchi bei seinen fieberhaften Nachforschungen stellt, um dann im Epilog selbst bei einer Frage anzugelangen: «Welcher Unterschied besteht zwischen Caterina Vizzani und den Frauen von heute, die sich in Rom, Florenz, Siena oder in anderen westlichen Städten in eine Person desselben Geschlechts verlieben?» (S. 131). Der Unterschiede sind viele, beginnend mit dem Umstand, dass Lesben, im Unterschied zu den Tribaden von damals, heute die Möglichkeit haben, sich in anderen Frauen wiederzufinden, mit ihnen Lebensentscheidungen gemeinsam zu treffen und weniger beschwerliche Wege zu gehen als Caterina, die zu Giovanni wurde und immer auf der Flucht war. Und doch ähnelt Barbagli zufolge das Schicksal von Caterina Vizzani zumindest in einem Aspekt jenem von einigen heute lebenden Lesben: nämlich darin, dass die Familie der sexuellen Orientierung nicht unbedingt ablehnend gegenübersteht und sie stattdessen annimmt und unterstützt. Caterinas Vater hat seine Tochter anscheinend seit der Kindheit darin bestärkt, männliche Kleider zu tragen, eine männliche Identität anzunehmen und eine Arbeit zu finden. Außerdem half er ihr offenbar, als sie aufgrund von gewissen Liebschaften in Schwierigkeiten geriet und sich ein Vater an ihre Fersen heftete, um die Ehre seiner Töchter zu retten.
An diesem Punkt der ausgezeichneten Arbeit von Barbagli wäre wohl größere Vorsicht oder stärkeres Misstrauen angebracht gewesen. Zunächst einmal ist es unwahrscheinlich, dass Bianchi, der Caterinas Verhalten nie negativ beurteilt, ein Verteidiger ante litteram von Gleichberechtigung der Liebe zwischen Frauen gewesen wäre. Ebenso problematisch ist die Annahme, der Umstand, dass Caterinas Kleidung keine feindseligen Reaktionen hervorgerufen habe, deute auf einen weiteren (stärker verborgenen, aber nicht weniger grausamen) Aspekt der Kriminalisierung nonkonformer sexueller Orientierungen hin, mit anderen Worten den des Verdrängens und Totschweigens. Dieses Schweigen hat lange über der Geschichte der Liebe zwischen Frauen gelegen. Der Storia di Caterina kommt das Verdienst zu, diesem lange durch die – oft durch Männer dominierte – Wissenschaft ignorierten Thema die gebührende Aufmerksamkeit zu zollen.