Reviewer Marco Bellabarba - Università di Trento
CitationLucca, Hauptstadt einer bis 1799 unabhängig gebliebenen Adelsrepublik, und ihr kleines Territorium stehen im Zentrum von Matteo Giulis Monographie. Das Verhältnis zwischen Stadt und Umland (contado) ist in vielerlei Hinsicht ein klassisches Thema der italienischen Geschichtsschreibung. Dank ihrer intensiven Quellenarbeit und ihres herausragenden methodologischen Ansatzes gelingt es der vorliegenden Arbeit dennoch, eine innovative Lesart zu entwickeln.
Giulis Ausgangspunkt ist die Untersuchung der Interaktionen mit den Bewohnern des ländlich geprägten Territoriums, welche die tägliche Verwaltungspolitik der städtischen Eliten charakterisieren. Wie der Autor in seiner Einleitung hervorhebt (S. 12), geht es ihm darum, die alltäglichen Beziehungen zwischen «institutions, verstanden als Spielregeln (seien sie formalisiert oder nicht) und organizations im Sinne von Akteuren des Spiels (players)» zu untersuchen. All dies zielt darauf ab, die «alltägliche Regierungspraxis» in Lucca zu verfolgen, die Mittel zu erkennen, die der Regierungsklasse zu Gebote standen, und schließlich zu verstehen, durch welche Faktoren dies bestimmt wurde.
In der kontinuierlichen Verbindung von «oben» und «unten» sowie der gesetzlichen Normen und ihrer konkreten Anwendungspraxis erscheint das traditionelle Bild des Verhältnisses von Lucca zu seinem Umland langsam in einem anderen Licht. Die Trennung von Stadt und Land erweist sich in der Praxis weniger streng als von der Historiographie einige Jahrzehnte zuvor angenommen: Die herrschaftlichen Verbindungen des Stadtadels mit den Bauern auf ihren Landgütern weisen Schwächen und Bruchstellen auf, welche das Funktionieren der Regierungsmaschine beinträchtigen konnten. Die Analysekategorie Zentrum-Peripherie selbst, die eine starke Stadt und ein schwaches Umland voraussetzt, erweist sich letztlich als wenig überzeugend: Sowohl das kommunale Zentrum als auch die ländlichen Gemeinden erscheinen hingegen deutlich als Territorium ohne fest umschriebene Grenzen, als eine prozesshafte Einheit, die gemäß den Kräfteverhältnissen zwischen den ihr inhärenten institutionellen und gesellschaftlichen Akteuren ihre Gestalt ändern konnte.
In einer gleichzeitig «mehrstufigen» und «mikroanalytischen» Herangehensweise widmet sich Giuli im ersten Kapitel des Buches der Versorgungspolitik (La politica alimentare dello Stato lucchese). Da Luccas Nahrungsmittelversorgung nicht autark war, wurde die regelmäßige Beschaffung von Getreide, das meist von Schiffen hergebracht wurde, die im Hafen von Viareggio ankerten, eine lebenswichtige Frage. Aus diesem Grund errichteten die republikanischen Regierungsklassen schon seit dem späten Cinquecento ein kompliziertes System von Ämtern (Offizio sopra l’Abbondanza, Offizio sopra la Munizione stabile, Offizio sopra la Grascia, Offizio sopra l’Estrazione, und noch andere mehr), denen die Überwachung der Annona-Politik zukam. Die Aktivität dieser Ämter basierte auf der leitenden Grundannahme, dass der An- und Verkauf von Getreide, ebenso wie die Produktion von Brot und sein Verkaufspreis, nicht den wandelbaren Gesetzen des freien Marktes zu überlassen seien. Einer auch für andere Institutionen des Ancien Régime charakteristischen Logik zufolge war es Aufgabe der Regierenden, die Nahrungsmittelversorgung der Bevölkerung zu garantieren, nicht nur, um Aufständen im Falle von Hungersnöten vorzubeugen, sondern vor allem, weil es sich um eine «moralische Pflicht» den Untertanen gegenüber handele. In dieser Sicht war der eingeforderte Gehorsam der Untertanen mit einer stillschweigenden Übereinkunft alten Ursprungs verbunden, die nicht gebrochen werden durfte. Sie sah einen gegenseitigen Austausch zwischen der Garantie von Lebenserhaltung durch erschwingliche Nahrungsmittel auf der einen Seite, und auf der anderen Seite politisch-soziale Unterwerfung der Untergebenen vor (S. 63). Dieses ungeschriebene, aber immer stillschweigend eingehaltene Gesetz hatte Auswirkungen auf Politik und Institutionen der Republik in der langen Dauer.
Die Getreideämter bestimmten, wie gesehen, gemäß einer strikt protektionistischen Linie die gesamte Produktionskette, vom Ankauf des Getreides zu Großhandelspreisen bis hin zum Detailverkauf von Brot, sodass Brot zu festen Preisen, und nur an bestimmten Orten sowie in bestimmter Menge verkauft werden konnte. Die Getreideämter sind die bedeutsamsten Organe der Regierung über und im Territorium. In ihnen finden sich nicht zufällig zu jeder Zeit die bedeutendsten Adeligen von Lucca. Auf der anderen Seite wird das Verfahren der Unterordnung der Marktgesetze unter die auf die Erhaltung der inneren Ordnung abzielende politische Ideologie auf vielen anderen wirtschaftlichen Sektoren (Handel mit Öl, Wein und Fleisch, Nutzung der Kastanienwälder) angewandt und hat direkte Auswirkungen auf die Steuerpolitik der Republik hinsichtlich des Umlandes. Dies ist das Thema des zweiten Kapitels (Le difficoltà finanziarie del contado lucchese), in dem das Vorgehen zweier in den 40er Jahren des 17. Jahrhunderts zur Eindämmung der hohen Verschuldung der ländlichen Gemeinden gegründeter Ämter dargelegt wird, namentlich des Offizio sopra i Disordini und des Offizio sopra i Beni comunali. Das chronische finanzielle Defizit der lucchesischen Dörfer ist zu einem großen Teil Auswirkung des städtischen Monopols auf den Ernährungssektor. Die den Gemeinden und einzelnen Personen auferlegte Verpflichtung, nur das so genannte «verkäufliche Brot» («pane venale») zu erwerben, und dies zu oft höheren als den Marktprei- sen, zog in der Tat eine progressive Verschlechterung der finanziellen Zustände auf dem Land nach sich und hatte immer bedrohlichere Auswirkungen auf die öffentliche Ordnung. Angesichts der von einem verbreiteten ländlichen Rebellantentum ausgehenden Gefahr versuchen die beiden Ämter (denen im Jahr 1680 das Offizio sopra i possessi turbati an die Seite gestellt wird), auf lokaler Ebene zwischen geldgebenden Besitzern und verschuldeten Bauern zu vermitteln, indem entweder der Aufschub von Schulden oder ihre Zahlung von oben garantiert wurde.
Es handelt sich um einen «autoritären Paternalismus», dessen Wirken schon bei der Getreidepolitik zu beobachten war. Insbesondere das Offizio sopra i disordini versuch des Öfteren, den Stadtadel zu überzeugen, die ökonomischen Bedürfnisse jener zu berücksichtigen, die in den ärmsten Dörfern lebten und gezwungen waren, bei schlechter Ernte im Elend zu leben (S. 232). Die Eingriffe waren allerdings nicht «neutraler» Natur. Durch die Kontrolle des privaten Kreditsystems versuchte die öffentliche Gewalt, die Vertretungen der zentralen Institutionen auf dem Land zu stärken und die Steuereinnahmen zum Vorteil der städtischen Oligarchie zu rationalisieren.
Die konstante Verbindung privater und öffentlicher Interessen (die Leiter der Ämter sind zugleich die Großbesitzer), zermürbte natürlich die Regierungsmechanismen des Umlandes. Von einem idealen Staat war das weit entfernt. Gut erkennbar wird dies im dritten Kapitel (La conflittualità rurale dalle Sei miglia alla frontiera), einer sehr dichten Analyse der Konflikte, welche tagtäglich im lucchesischen Umland, und insbesondere in Grenzgebieten aufflammten. Auch hier gelingt es dem Autor sehr gut, das reiche Archivmaterial anhand der jüngsten geschichtswissenschaftlichen Interpretationsmodelle auszuwerten, die durch die Kriminalitätsgeschichte der Vormoderne bereitgestellt werden. Ebenso wie in der Getreide- und Steuerpolitik, treten nochmals die flexiblen Mechanismen einer staatlichen Justiz hervor, die nicht aufgrund von abstrakten Erwägungen strafte, sondern von Fall zu Fall milde oder hart urteilte, mit dem Ziel, «das unausweichliche Abdriften einer kontingenten Praxis von der Norm zu vermindern» (S. 383). Die gouvernamentalité des lucchesischen Patriziats zeichnete sich durch die ständige Aufmerksamkeit dafür aus, die Vertrauensverhältnisse mit dem Umland nicht zu unterbrechen, den Unduldsamkeiten und Protesten zum Trotz, die insbesondere gegen Ende des 18. Jahrhunderts ausbrachen. Getreide- und Steuerpolitik sowie Rechtsprechung stellen demnach Instrumente der Sozialkontrolle dar, «Polizeidispositive» (die Definition stammt von Michel Foucault), welche hinter dem Antlitz des Paternalismus und christlicher Nächstenliebe die Fähigkeit verbergen, die althergebrachten Kräfteverhältnisse beizubehalten.
Diesen Mitteln ist es zu verdanken, dass der kleine Staat Lucca bis zum Zeitalter der Revolutionen überleben konnte. Sein Bestreben war es, sich so wenig wie möglich zu verändern, oder wie ein Historiker des 19. Jahrhunderts bemerkte: die Republik so zu erhalten, als sei sie «von der Welt vergessen», um keinen Neid hervorzurufen und von niemandem «gestört» zu werden. Das gelungene Buch von Matteo Giuli erlaubt es heute, jene vor Jahrhunderten erbaute Mauer des Schweigens und institutionellen Vergessens niederzureißen.