Annali dell'Istituto storico italo-germanico | Jahrbuch des italienisch-deutschen historischen Instituts

40, 2014/2

Antonio Ferrara - Niccolò Pianciola

L’età delle migrazioni forzate

Review by: Diego D’Amelio

Authors: Antonio Ferrara - Niccolò Pianciola
Title: L’età delle migrazioni forzate. Esodi e deportazioni in Europa 1853-1953
Place: Bologna
Publisher: Il Mulino
Year: 2012
ISBN: 978-88-1523-466-7

Reviewer Diego D’Amelio

Citation
D. D’Amelio, review of Antonio Ferrara - Niccolò Pianciola, L’età delle migrazioni forzate. Esodi e deportazioni in Europa 1853-1953, Bologna, Il Mulino, 2012, in: ARO, 40, 2014, 2, URL https://aro-isig.fbk.eu/issues/2014/2/leta-delle-migrazioni-forzate-esodi-e-diego-damelio/

PDF

Zwangsmigration, Vertreibung, Massendeportation und ethnische Säuberung haben – mit deren wenn auch nicht zwingenden, so doch möglichen Überlagerung – tiefe Spuren bis in die Gegenwart hinterlassen, da in den Jahren zwischen 1853 und 1953 rund dreißig Millionen Menschen in Ostmitteleuropa und auf dem Balkan davon erfasst wurden. Zwar sind diese Prozesse in der Menschheitsgeschichte keineswegs neu, doch wurden sie in jener Zeit durch mitunter völlig neue Ursachen und Zwänge hervorgerufen, und nahmen Ausmaße an, die man in dieser Form bis zum Einsetzen der Massenmigrationen nicht kannte. Mit ihrem Buch schließen Antonio Ferrara und Niccolò Pianciola im italienischen Geschichtsbild eine Lücke, indem sie eine überzeugende Analyse des – aus ihrer zeitlichen und substanziellen Sicht – Jahrhunderts der Zwangsmigrationen bieten.

Die Autoren präsentieren eine Perspektive des langen Zeitraums sowie der zeitlichen – hundert Jahre, in denen sich Krieg, die Auflösung ganzer Staaten, schlagartige Täter-Opfer-Umkehrungen bei Zwangsmigration – und räumlichen Kontextualisierung in jenem «Mitteleuropa», das bis zum Ersten Weltkrieg in Habsburger, Deutsches, Russisches und Osmanisches Reich aufgeteilt war. Der Faden ihrer Narration zieht sich durch Krimkrieg, Exodus der Tscherkessen und Tataren, Balkankriege, «Türkisierung» Anatoliens, Genozid an den Armeniern, Griechisch-Türkischen Krieg, Ersten Weltkrieg, Bolschewikische Revolution und die Neuordnung im Zuge des Niedergangs der zentraleuropäischen Reiche. Daneben fokussiert das Buch auf die Strategien des nationalsozialistischen Deutschen Reiches und der Sowjetunion zum rassenideologisch motivierten Vernichtungskrieg, um im abschließenden Kapitel dann den Blick auf die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg mit den Zwangsmigrationen der Deutschen im östlichen Mitteleuropa und auf die Balkanfrage zu richten. Bewusst und kompetent argumentierend, befasst sich das Buch nur marginal mit den Deportationen (und der damit verbundenen Zwangsarbeit) innerhalb der totalitären Staaten sowie jenen der Juden durch das Dritte Reich und deren Satellitenstaaten als erstem Akt der NS-Vernichtungspolitik: zwei Phänomene, die nach Ansicht der Autoren nicht unmittelbar zum leitenden Thema ihrer Analyse gehören.

Aus der Arbeit von Ferrara und Pianciola geht vor allem die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts als «Zeitalter der Zwangsmigration» hervor. Waren es in der Zeit zwischen dem Krimkrieg und den Kriegen am Balkan (1853-1912) noch etwas mehr als eine Million Menschen, die ihre Herkunftsgebiete verlassen mussten, so stieg die Zahl der Flüchtlinge im Zeitraum zwischen dem Ersten Weltkrieg, der Russischen Revolution und den unmittelbar darauffolgenden Jahren auf knapp zehn Millionen an, um dann ab den frühen 1920er bis Mitte der 1950er Jahre noch größere Ausmaße zu erreichen, als zwanzig Millionen Menschen der durch den Totalitarismus und die nach dem Zweiten Weltkrieg schwierige Gestaltung der Übergangsregime in Mittelosteuropa «demografischen Bereinigung» zum Opfer fielen. Historisch ordnen die Autoren den plötzlichen Anstiegs der Flüchtlingszahlen im 20. Jahrhundert in einen Kontext ein, der durch das Aufeinandertreffen einer Reihe von Ereignissen geprägt ist, die ihren Ursprung in der Mitte des 19. Jahrhunderts in den Gebieten um das Schwarze Meer hatten. Aufbauend auf dieser Überlegung stellen die Autoren die Grenzen anderer Perspektiven des langen Zeitraumes (Naimark, Mann, Bloxham und Zürcher) heraus. Diese blieben zu sehr der ethnischen Dimension des Problems verhaftet, ohne die 1912 erfolgte Zäsur in gebührender Weise hervorzuheben, infolge derer die Zwangsmigration «epochale» Ausmaße annahm, zugleich aber auch eine Epoche begann, die erst mit dem Tod Stalins endete und tiefgreifende territoriale Veränderungen auf dem ganzen Kontinent nach sich zog.

Ferrara und Pianciola betonen die Notwendigkeit, die dargestellten Phänomene nicht nur in ihrer ethnischen Dimension (die sich in Mitteleuropa und in den Grenzregionen übrigens oftmals nur schwer definieren lässt) zu fassen, sondern mit der gleichen Aufmerksamkeit auch die kulturellen, religiösen, politischen und sozioökonomischen Komponenten in den Blick zu nehmen. Sehr viele Massenmigrationen wurden indes durch nicht selten nach dem Ende von Kriegen entstandene «revolutionär geprägte Regime im weiteren Sinne» hervorgerufen, die auf die Entfernung potenziell «systemfeindlicher Bevölkerungsteile» zielten: Es handelte sich also um soeben neu gegründete Staaten, die zur eigenen Institutionalisierung einer entsprechenden Legitimierung bedurften. Auslösende Momente von Migrationsvorgängen waren somit nicht nur die nationale Homogenisierung, sondern auch die Sicherheit (vor einer mehr oder minder starken potenziellen Bedrohung) oder die Kolonisierung: drei Idealtypen, die unweigerlich in Wechselbeziehung miteinander stehen können. Objekt der Analyse sind folglich die nationalen Minderheiten, aber ebenso politische Gegner und Gesellschaftsgruppen, die generell von ihren Widersachern als Träger kollektiver Identität, ohne Rücksicht auf individuelle, gemischte und pluralistische Identitäten definiert wurden. Es handelte sich hier um Elemente, die – ausgehend von einer die europäische Staatenbildung im 19. und 20. Jahrhundert und die Nachkriegsordnung prägenden einheitlichen Konzeption von Souveränität – als interne Feinde, als «Fünfte Kolonne» des externen Feindes angesehen wurden.

Den Autoren zufolge ist die Überwindung der rein ethnischen Sichtweise eine grundlegende Voraussetzung, um nicht einer gewissen argumentativen Trägheit zu erliegen, die nach dem Jugoslawien-Konflikt der 1990er Jahre dazu geführt hat, dass fast alle Fälle von Zwangsmigration der gegenwärtigen Zeit zur «ethnischen Säuberung» wurden und diese somit dem Begriff des «Genozids» immer ähnlicher wurde. Der Grund hierfür liegt offenbar auch in der Komplexität dieser Prozesse, da die Übergänge von ethnischer Säuberung eines Territoriums zu Deportation oder Massenmord meist fließend sind und sich deren genauer Zeitpunkt kaum festlegen lässt. Wenngleich es sich um unterschiedliche Formen der Minderheitenverfolgung handelt, bestehen sie doch häufig miteinander, wie im Falle der Vernichtung der Armenier oder der Juden. Auch den Begriff «Exodus» definieren die Autoren näher: Zwar sei dieser von einer mehr oder minder starken Freiwilligkeit geprägt, aber dennoch erfolge dieser Prozess in einem Kontext der Gewalt, der Unterdrückung und der Beraubung von Rechten. Zeugnisse hiervon sind der Exodus der Juden aus dem Russischen Reich zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert, die Aussiedlung der Deutschen und Ungarn nach 1918 und der Auszug der italienischsprachigen Minderheit aus Istrien und Dalmatien in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Autoren gehen ebenfalls auf die Begriffe «Vertreibung» und «Deportation» ein, indem sie ersteren als manifestierte und häufig vereinbarte Absicht der Auslöschung von gegnerischen Gruppen (z.B. Griechisch-Türkischer Austausch) und letzteren als Bevölkerungstransfer innerhalb eines Staates rezipieren.

Im Fokus der Arbeit steht ebenfalls eine minutiöse Rekonstruktion der Jahre des Zweiten Weltkriegs sowie der Spuren, die dieser hinterlassen hat. Die Darstellung beginnt mit der Aufteilung Polens infolge des Molotov-Ribbentrop-Paktes und den daraus folgenden Zwangsumsiedlungen von Polen, Deutschen und Juden, wobei letztere dadurch zunächst dem Einmarsch der Deutschen entfliehen konnten, später aber doch von den Sowjets deportiert wurden. Daran anschließend beleuchten die Autoren die Flucht der baltischen Völker, die aus Angst vor dem Terror der Roten Armee und in Erinnerung an die vormalige Besetzung durch die Sowjets ihre Heimat verließen. Zu Verfolgungen und – individuellen sowie kollektiven – Reaktionen kam es indes in zahlreichen Gebieten, die Schauplätze von geopolitischen und ideologischen Umwälzungen im Zuge des Zweiten Weltkrieges waren. Ein Zeugnis davon sind die Maßnahmen gegen die Deutschen nach 1945, die «zum gewaltsamen Einsturz der von den Nationalsozialisten konstruierten ethnischen Pyramide» geführt hatten: Zwölf Millionen Menschen mussten – unter Gewalt und Unterdrückung – die der Sowjetunion, Polen und der Tschechoslowakei einverleibten ehemaligen Reichsgebiete verlassen: die Entwurzelung war endgültig.

Die Rekonstruktion, die hier nur knapp wiedergegeben werden kann, umfasst fünfzehn Kapitel mit von den Autoren jeweils abwechselnd verfassten Beiträgen. Basierend auf der zum Thema des Buches in mehreren Sprachen verfügbaren dichten Literatur wird das geschilderte Geschehen als europaweites Phänomen untersucht. Dabei erfassen die Autoren die Ereignisse nicht nur im Einzelnen, sondern auch in einem vergleichenden abstrakten Kontext: Abschließend kann man eigentlich nur hoffen, dass diese minutiöse und facettenreiche Analyse trotz des mitunter schwer zugänglichen Archivmaterials künftig durch eine quellennahe Forschung zur weiteren Vertiefung der zahlreichen aufgeworfenen Fragen integriert wird. Die Arbeit von Ferrara und Pianciola veranschaulicht derweil in fundierter Weise die Komplexität des Phänomens und die Unmöglichkeit einer übergreifenden Kategorisierung von Prozessen mit differenten auslösenden Momenten und Ursachen: Unzweifelhaft eine überaus anregende Lektüre für die Forschung zu Ostmitteleuropa und den Balkan, aber nicht nur, da die Zwangsmigrationen im 20. Jahrhundert natürlich nicht um ihrer selbst Willen geschahen, sondern die Geschichte des Kontinents tiefgreifend verändert haben.

Subscribe to our newsletter

Partners