Reviewer Massimo Scandola - Université de Tours
CitationDie Erforschung der Entstehung und Überlieferung von Briefsammlungen stellte für die Historiographie in den letzten zehn Jahren eine der größten Herausforderungen dar. Jüngste Studien haben die Komplexität der in der Mitte des Mittelalters zur Anwendung gekommenen Methoden aus einer multidisziplinären Perspektive rekonstruiert, in der die «Überlieferungs-geschichte» zwangsläufig in Beziehung zur Kodikologie, zur Geschichte der Argumentation und zur amtlichen Korrespondenz gebracht wird. In diesem Rahmen hat sich eine Reihe von Forschern indes mit der Analyse der «grauen Schriften» («écritures grises») befasst, von denen Briefe eine der signifikantesten Ausdrucksformen sind. Im Fokus standen dabei sowohl die Mikroformen der einzelnen Briefe als auch die Makroformen der Briefcorpora sowie die Methoden zu deren Erhaltung. Ein detailliertes Bild von der zur Zeit des Hochmittelalters und der Frühen Neuzeit in den Kanzleien verwendeten «politische Sprache» wurde ebenso geboten.
Die Akten der beiden von der École française de Rome und von dem zum Institut für Geschichtswissenschaft der Universität Triest gehörenden CERM (Centro Europeo Ricerche Medioevali) organisierten Tagungen (Triest, 28.-29. Mai 2010; Rom, 20.-21. Juni 2011) fügen sich in diese umfangreiche Forschungstradition ein.
Der erste Band beginnt mit einer Einleitung, in der Paolo Cammarosano das Vorgehen erläutert und einen vorzüglichen Einblick in die Überlieferung von Briefen ausgehend von der romanischen Zeit bis zum 15. Jahrhundert, in dessen Verlauf Episteln und Epistolare eine strengere Formalisierung erlangten, bietet.
Der Beitrag von Ammand Jamme beschäftigt sich sodann mit den Beziehungen zwischen «Macht und Schreibkunst» und den in den Kanzleien der Rektoren und päpstlichen Gesandten in den Städten Mittelitaliens (13.-14. Jahrhundert) angewandten Methoden der Konzipierung und Redaktion von Briefen. Die überlieferten Briefsammlungen des Patriarchen von Aquileia, der neben seiner geistlichen Macht auch die weltliche Herrschaft über das Territorium ausübte, sind sogar Gegenstand von drei Beiträgen mit anschließender Literatur. Einen ersten detaillierten Überblick über die im Archiv von Cividale im Friaul aufbewahrten Briefcorpora liefert Marialuisa Bottazzi. Es folgt eine vertiefend Studie von Miriam Davide zu den im Gemeindearchiv von Gemona sowie im Staatsarchiv und in der Stadtbibliothek «V. Joppi» von Udine aufbewahrten Briefmaterialien. Im Vordergrund stehen dabei eine Formalbeschreibung der einzelnen Korrespondentypen (Briefe von Patriarchen, Capitani del popolo, Vizedomini, Gemeinschaften und Privatbürgern). Dieser historisch-thematische Abschnitt endet mit dem Beitrag von Massimo Sbarbaro, der sich mit dem Thema der Digitalisierung von Briefsammlungen aus dem Mittelalter auseinandersetzt.
Den ersten Band schließt Maria Grazia Nico Ottaviani mit einer ausführlichen Darlegung der von Frauen verfassten Briefe sowie den damit verbundenen Methoden und Erfahrungswerten im 15. Jahrhundert.
Der zweite Band enthält die Akten der in Rom 2011 stattgefundenen Studientagung und beginnt mit der «Présentation» von Stéphane Gioanni über den mit dieser Tagung verfolgten – und vortrefflich erreichten – Zweck. Dieser bestand darin, die Funktionen der in den italienischen Kanzleien abgefassten und aufbewahrten Briefe aus der Perspektive eines langen Zeitraumes (vom 5. bis zum 15. Jahrhundert) zu erkunden und darzulegen. Der erste den «Modelli, tradizioni e collezioni epistolari nelle cancellerie dell’Altro Medioevo» gewidmete Abschnitt beginnt mit dem Beitrag von Luciana Furbetta über die rhetorische und stilistische Ausgestaltung der Briefe des Sidonius Apollinaris. Es folgt die Studie von Giulia Marconi über den Corpus der Briefe des Ennodius von Pavia, dem «Briefe-sammelnden Bischof». Der Beitrag von Dominic Moreau widerlegt die verschiedenen Hypothesen über die Entstehung und Überlieferung von Briefbüchern vor und nach der Herrschaft von Papst Gregor dem Großen. Die zentrale Rolle der Episteln im Hinblick auf die Entstehung des Kirchenrechts wird im Beitrag von Stéphane Gioanni herausgearbeitet, indem er das Liber auctoritaum der Partikularkirche von Arles analysiert: «ein vollendetes Beispiel diplomatischer «Korrespondenz», die zur «kanonistischer Sammlung» geworden ist. Einen detaillierten Einblick in die mise en place du discours der Papstbriefe des Staphan II. und Paul I. bietet Christiane Veyard-Cosme in ihrer Analyse des Codex Karolinus.
Der Schritt von dergleichen Themen zu einer profunden Reflexion über die Art und Weise der in der «amtlichen Korrespondenz» durchgeführten Argumentation ist kurz: Der zweite Abschnitt des Bandes widmet sich indes dem Thema «La rhétorique épistolaire et la communication politique». Der Beitrag von Warren Pezé beschäftigt sich mit den Episteln und den damit verbundenen möglichen Kommunikationsformen und analysiert die Korrespondenz über Gottschalk von Orbais’ Missionierungsreise in Italien (835-848). Das Thema der politischen Sprache im diplomatischen Briefverkehr des 9. Jahrhunderts wird ebenso von Maddalena Betti aufgegriffen. Ausgehend von den zur Zeit der Karolinger in der päpstlichen Kanzlei angewandten Argumentationsmethoden räsoniert sie in ihrem Beitrag über die zur Knüpfung von Beziehungsnetzwerken mit den barbares nationes bevorzugten Argumentationspraktiken. Die ars scribendi und die politische Sprache des Mailänder Klerus im 11. Jahrhundert waren Gegenstand des Beitrags von Marialuisa Bottazzi.
Der nachfolgende den «Aspetti culturali e simbolici della lettera, propaganda e scrittura» gewidmete Abschnitt beginnt mit dem Beitrag von Marco Petoletti und Miriam Rita Tessera und beschäftigt sich mit den Briefen des Mailänder Propst Martino Corbo (12. Jahrhundert). Eine Reflexion über die Briefsammlungen des Petrus des Vinea bietet Fulvio Delle Donne. Das 13. Jahrhundert in Italien und die enge Wechselbeziehung von ars dictaminis, des guten Prosastils also, und Rechtssprache werden von Benoît Grévin beleuchtet. Diese Themen leiten direkt zu den formularia und summae über, d.h. den täglichen Arbeitsinstrumenten einer Kanzlei – wie beispielsweise der apostolischen Pönitentiarie – im 13. Jahrhundert, die sehr gut von Arnaud Fossier beschrieben wurden.
Der Abschnitt «Corrispondenza delle comunità italiane» beginnt mit dem Beitrag von Paolo Cammarosano, der auf die indirekten Überlieferungsformen von Korrespondenzen der italienischen Kommunen fokussiert, die zumeist in den Registern der kommunalen consilia aufbewahrt wurden und in dieser Form bis heute erhalten sind. Mit einer anderen Form der Überlieferung setzt sich Miriam Davide auseinander, die in ihren Ausführungen die verschiedenen Formen der Verwendung und Verwaltung von Briefen im Patriarchat von Aquileia zwischen dem 14. und 15. Jahrhundert untersucht.
Der letzte Abschnitt «Giochi e corrispondenza diplomatica nell’età umanistica» enthält den Beitrag von Clémence Revest, der den «medialen Erfolg» der von Leonardo Bruni verfassten und von Gregor XII. (1406) erlassenen Bulle Qui se humiliat beschreibt: eine Schrift, die den Briefstil im 15. Jahrhundert maßgeblich beeinflusste. Der Band schließt mit dem Beitrag von Laurent Vissiére über die «Briefkultur» der italienischen Adelshäuser und der damit verbundenen der Rezeption der ars dictamini zur Zeit der ersten italienischen Kriege (1494-1525) beschäftigt.
Insgesamt stellen die beiden Bände die Krönung eines langen, 2006 eingeschlagenen Weges dar und zeigen aus der Perspektive eines langen Zeitraumes, dass die Erforschung der Entstehung und Überlieferung von Korrespondenzen und Briefen ein wichtiger Bezugspunkt für das Herausarbeiten von Analogien und Diversitäten der in den Kanzleien zur Zeit des Mittelalters angewandten Methoden sein kann. Angeregt durch diese historiographische Relevanz, scheinen die Forscher sich gegenwärtig in der Tat neuen Herausforderungen zu stellen, denen die Erkundung der in den mittelalterlichen Kanzleien zur Anwendung gekommenen Methoden der Redaktion, Organisation und Argumentation von Episteln zugrunde liegt.