Reviewer Claudio Ferlan - FBK-ISIG
CitationMit dem vorliegenden Buch ist es Federica Morelli sehr gut gelungen, die Rezeptionsgeschichte des atlantischen Paradigmas zu rekonstruieren, indem sie es nicht bei einer bloßen Wiedergabe des Forschungsstandes belässt, sondern eine mehr als vier Jahrhunderte überspannende Geschichte mit einer wenn nicht neuen, so doch aktualisierten Sprache erzählt. Die Ziele des Buches werden schon in der Einleitung deutlich, in der sie von einer «neuen atlantischen Geschichte» schreibt, deren Gegenstand «nicht mehr die Ökonomien oder Kolonialreiche, sondern vielmehr die Menschen mit ihren Lebens-, Arbeits- und Konsumgewohnheiten, ihren kulturellen und religiösen Traditionen, ihren unterschiedlichen Ethnien sind» (S. 9). In dieser Perspektive nähert man sich dem Atlantik als einen Raum, der sich im Laufe der Jahrhunderte über ein komplexes Geflecht von Wechselbeziehungen gebildet hat und dessen Analyse jeden Anschein einer eurozentristischen Sichtweise vermeiden muss. Indem sie weit über die ersten auf die 1950er Jahre zurückgehenden historiographischen Ansätze hinausgeht, unterstreicht Morelli – ebenso wie die jüngsten Forschungen – die Notwenigkeit, über die Idee einer vornehmlich auf den Interaktionen zwischen dem Alten Kontinent und Nordamerika gestützten atlantischen Welt hinauszugehen, um auch die Verflechtungen zwischen Iberoamerika und Afrika, die ihrerseits die beiden Kontinente an Europa binden, zu berücksichtigen. Dabei findet Afrika nicht nur wegen des Sklavenhandels, sondern aufgrund verschiedener anderer kultureller und wirtschaftlicher Komponenten, die im 15. Jahrhundert entscheidend zur Entstehung der atlantischen Welt beigetragen haben, besondere Beachtung. Dieser neue Ansatz erfordert freilich eine kritische Hinterfragung der herkömmlichen Chronologie, der zufolge Kolumbus’ erste Entdeckungsfahrt (1492) den Anfang einer neuen Geschichte markierte. Vielmehr repräsentiere diese Fahrt hingegen «den Höhepunkt eines sehr viel weitreichenderen Prozesses, das Ergebnis des Aufeinandertreffens einer Reihe struktureller Rahmenbedingungen im Europa des ausgehenden Mittelalters, die den Aufstieg von Männern wie Heinrich der Seefahrer und Kolumbus selbst möglich machten» (S. 19). Die Autorin beschreibt und belegt diese These in überzeugender Weise im ersten Kapitel («Nascita e formazione»), das ausgehend von den Ursprüngen der Atlantikfahrten im Mittelalter und den Verflechtungen zwischen Süd- und Nordeuropa, sodann die Entdeckung und Kolonisation der bedeutendsten Inselgruppen an der ostatlantischen Küste Europas (die Kanarischen Inseln und die Madeira, Azoren) und schließlich die britischen Erkundungsfahrten im nordatlantischen Raum behandelt. All diese Verknüpfungen antizipieren und initiierten auf gewisse Weise die Entdeckung der beiden Amerika. Gebührend Platz nimmt dann die Rekonstruktion der Beziehungsmodelle zwischen Europäern einerseits und amerikanischen Ureinwohnern und Afrikanern andererseits ein. Im Abschnitt «Violenza e sfruttamento», der die heuristische Wertigkeit einer auf das Individuum fokussierten Forschung unter Beweis stellt, präsentiert Morelli eine suggestive These: «Dank der zahlreichen Chroniken und Bilder über die Brutalität und Gewalt der Eroberungszüge, die das Europa des späten 16. Jahrhunderts erreichten, wurden sich die Europäer der eigenen ‘Barbarei’ bewusst, indem sie ihre eigenen Erfahrungen in Beziehung zu den Ereignissen in Übersee sahen: die beiden Prozesse wurden allmählich als Teile ein und desselben Kontinuums betrachtet. Die Gewalt in Afrika und in Amerika reflektierte demzufolge die europäische Gewalt, und die Grenze zwischen zivilisierter und wilder Welt wurde zunehmend unschärfer» (S. 56). Zur Vermeidung von Missverständnissen sei erwähnt, dass der ökonomisch-institutionelle Ansatz stets gebührende, jedoch nicht ausschließliche Beachtung findet.
Anhand des chronologischen Verlaufs des Entstehungsprozesses der atlantischen Welt fokussiert das zweite Kapitel («Percorsi imperiali») auf jene Elemente, die die verschiedenen Interaktionsmodelle der europäischen Seemächte (Spanien, Portugal, England und Frankreich) voneinander unterscheiden. Die Autorin untersucht die unterschiedlichen Kolonisierungsformen und beschreibt zwar knapp, aber sehr solide die prägenden Elemente der vier Seemächte: Besiedlungsformen, Beziehungen zu der indianischen Urbevölkerung in Rein- und Mischform, Ökonomien, Evangelisierung. Das dritte Kapitel («Integrazione») befasst sich hingegen mit den Fundamenten der atlantischen Welt. Im Vordergrund stehen hier zunächst eine Beschreibung der Migrationen, von denen insbesondere das vorherrschende Merkmal der Erzwungenheit herausgestellt wird und daran anschließende eine Analyse der Sklaverei und des Sklavenhandels. Die Autorin widmet diesem Thema mehrere Seiten, um ihre These näher zu erläutern, der zufolge in der Neuzeit «die Afrikaner für den Atlantik von größerer Bedeutung waren als die atlantische Welt das für die Afrikaner gewesen ist» (S. 146). Diesen Umstand führt sie nicht nur auf den mit dem Sklavenhandel einhergehenden vermeintlichen Kulturtransfers oder dessen ökonomischer Relevanz, sondern auch auf die Vielzahl der daran aktiv beteiligten Zwischenhändler aus dem Schwarzen Kontinent zurück. Das Kapitelt hebt sodann die Bedeutung des Fernhandels sowie der daran beteiligten Seemächte im Hinblick auf die Entstehung und Integration einer atlantischen Gemeinschaft hervor. Die letzten beiden Abschnitte des Kapitels sind den Religionen und den im Rahmen der atlantischen Geschichte jeweils entwickelten Begriffen der «Rasse» und der «Identität» gewidmet.
Am Ende des Buchs steht das Kapitel «Crisi e dissoluzione», das angefangen vom Siebenjährigen Krieg bis hin zur Amerikanischen und Haitianischen Revolution (1789-1800) die Einflussfaktoren aus dem atlantischen Raum in den Blick nimmt, wobei die Autorin insbesondere in Bezug auf letztere die atlantische Dimension eindrucksvoll herausarbeitet: «die Haitianische Revolution leitete eine Reihe bahnbrechender Ereignisse ein: die Einführung von Kolonialvertretung in den Versammlungen der Städte; das Ende der Rassendiskriminierung; erstmals die Abschaffung der Sklaverei in einer bedeutenden sklavenhaltenden Gesellschaft; die Gründung des ersten unabhängigen Staates in Lateinamerika» (S. 200). Die Spanische Revolution und der Erfolg der Abolitionsbewegung markieren der Autorin zufolge das Ende der neuzeitlichen atlantischen Welt und somit auch der beiden letzten Abschnitte des Kapitels.
Federica Morelli können gleich mehrere Verdienste zuerkannt werden: Das Buch ist gut lesbar, obwohl einige Wiederholungen vorhanden sind. Diese sind aber grundsätzlich berechtigt, um die Vertrautheit des Lesers mit einem Thema aufrecht zu erhalten, das nicht zu den Kernbereichen der italienischen Forschung gehört. Die Darstellung der geschilderten Ereignisse ist tadellos, und das Buch überzeugt durch sein Wechselspiel von historiographischen Perspektiven einerseits, Dynamiken und Ereignissen andererseits, die den präsentierten Thesen zugrunde liegen. Entgegen der weitläufigen Meinung über die Entdeckungsfahrt des Kolumbus, ist «Die atlantische Welt» eher ein Ausgangs- als ein Zielpunkt, ein hervorragender konzeptioneller Wegweiser, um sich dem Paradigma der atlantischen Geschichte anzunähern, um deren Komplexität zu erfassen und um zu verstehen, welche und wie viele unterschiedliche Elemente zur Genese und Aktualisierung dieser Welt beitragen können. Das Buch vermittelt dem Leser letztlich gerade die Idee einer permanent erneuerungsfähigen Historiographie, die über den Gegenstand ihrer Forschungen noch viel zu sagen hat.