Reviewer Valentina Sebastiani
CitationEin gutes Beispiel der jüngeren historiographischen Schule, die auf eine Darstellung der Geschichte der Emotionen abzielt, ist das Buch von Tiziana Plebani, Un secolo di sentimenti. Amori e conflitti generazionali nella Venezia del Settecento. Dieses führt uns auf eindrucksvolle Weise durch gründliche Erforschung der Geschlechterbeziehungen sowie der Beziehungen zwischen Eltern und Kindern in die «Kultur der Empfindungen» der Lagunenstadt ein. Dadurch soll ein besseres Verständnis für die Wirkungsmacht geschaffen werden, die die Sphäre der Gefühle bei der Ausgestaltung neuer soziokultureller Praktiken hatte. Bisweilen waren diese imstande, die Strukturen der Gesellschaft umzugestalten.
Die Historizität und Performativität der Empfindungen gehören nun nicht mehr zu ungeklärten Forschungsfragen, wie die starke Konjunktur der hierzu in den letzten Jahrzehnten erschienenen internationalen Studien zeigt – und von deren reichhaltig zitierter Bibliographie in der Einleitung ein Überblick geboten wird. Es bleibt dennoch weiterhin viel zu erforschen, um «der Subjektivität Gehör zu verschaffen», womit einerseits die Gefühle im Leben Einzelner erfasst und beschrieben, andererseits aus den Studien zu den Empfindungen nutzbare Hinweise zu den Formen der sozialen Interaktion, die zwischen Individuen in bestimmten raumzeitlichen Kontexten erzeugt wurden, gewonnen werden können. In Verfolgung dieser zwei Ziele richtet die Autorin ihren Blick auf die Analyse der vom Gericht der Staatsinquisitoren registrierten Notizen (Annotazioni) zu den überkommenen Suppliken und der Dokumentation über heimliche und versteckte Ehen, die im Archivio Storico del Patriarcato di Venezia aufbewahrt sind.
Die durch die venezianischen Prozessakten nachvollzogenen Modulationen individueller und familiärer Emotionswelten gewinnen einen übergreifenden Wert durch den Vergleich mit europaweit geteilten Wissensfeldern und Praktiken sozialen Austauschs. Der Einfluss der Verbreitung neuer anatomischer und wissen- schaftlicher Erkenntnisse auf den Wortschatz der Emotionen, ausgedrückt durch die in den Gerichten registrierten Einwürfe, ist deutlich vermerkbar (Kap. 1). Die Sprache der Empfindungen ging über einen reinen Generationenkonflikt hinaus und trug zu einer «langsamen Abnutzung der Prinzipien der Autorität» bei. Vom familiären Umfeld ausgehend erfasste dies die Machtstrukturen und die Mechanismen der Gesellschaft selbst (Kap. 2). Die neue «Dreistigkeit» der Kinder im Umgang mit ihrer eigenen affektiven Subjektivität nährte sich aus vergrößerten Räumen und Orten für Treffen, aus Fähigkeiten zur Planung der eigenen Zukunft unabhängig vom elterlichen Willen, vor allem aber aus den gefühlsbetonten Lebensmodellen, die in Theaterstücken oder Romanen vorgelebt wurden und die eine von der jüngeren Generation gewünschte allgemeine kulturelle Atmosphäre offen für mehr emotionale, sexuelle und erotische Freiheit schufen (Kap. 3). Die große Zahl der in den Prozessakten dargebotenen Fallstudien erlaubt der Autorin, den Grad der Emanzipation der jungen venezianischen Frauen genauer zu beleuchten: diese nahmen nicht nur häufig die zentrale Rolle bei der Führung von Liebesbeziehungen ein, sondern besaßen auch ausgefeilte Kenntnisse hinsichtlich opportuner Vorgehensarten und -weisen – oft indem sie z.B. auf heimliche und versteckte Ehen zurückgriffen – um das zu erreichen, was sie begehrten (Kap. 4 und 5). Die venezianische Blütezeit dieser Formen brachte einerseits die emotionalen Bedürfnisse der jüngeren Generationen auf Kosten der elterlichen Autorität zu stärkerer Geltung und führte andererseits auch eine Neutarierung der Geschlechterbeziehungen zu Gunsten einer ausgeprägteren Stellung des weiblichen Geschlechts herbei. Diese Phase endete bereits vor dem Ende des Jahrhunderts, nicht ohne jedoch Entwicklungsspuren eines «Alphabetismus der Gefühle und der Emotionen» hinterlassen zu haben, die – wenn auch nur für wenige Jahrzehnte – imstande waren, die Gesellschaft zu verändern (Kap. 6).
Plebani bietet in ihrem Band eine sorgfältige Analyse von archivalischen und gedruckten Dokumenten, die in diesem Forschungsfeld bislang wenig Beachtung fanden. Sie sucht auf innovative Weise in den Zwischenräumen der (Theater-, Roman-, poetischen, Brief- und wissenschaftlichen) Kultur nach dem emotionalen Substrat, das das Verhalten der jungen Generationen beeinflusste, nach einer interpretativen Linie, die auf überzeugende Weise zeigt, wie sich die affektiven individuellen Lebensläufe immer weiter von den führenden, familiären und institutionellen Mächten befreiten, denen sie in den vorangegangenen Jahrhunderten unterworfen waren.
Als ein bemerkenswertes Ergebnis erscheint insbesondere die lexikographische Analyse, der die Autorin die Prozessaussagen unterwirft. Diese zeigt nicht nur den Reichtum und die Varietät des von den Protagonisten bewusst verwendeten «Alphabets der Gefühle» auf, sondern erlauben auch Modulationen und Nuancen der Emotionswörter zu erfassen, die mit der italienischen Sprache – und dem venezianischen Dialekt – besser als in anderen Sprachen ausdrückbar sind.
Die gewählte Methode der Quellenanalyse lässt einen aus den Empfindungen gespeisten Drang zum Aktionismus bei den Protagonisten hervortreten, wobei insbesondere die aus den Liebesgefühlen erwachsende «Energie» die Frauen dazu brachte, neue soziale, anthropologische und institutionelle Rollen zu ergreifen. Besonders überzeugend erweist sich im Text die regelmäßige Öffnung des Vorhangs auf die liebevollen und erotischen Dynamiken der Paarbeziehungen, wie sie auch in den besten Traditionen des venezianischen und europäischen Theaters ihren Niederschlag fanden. Die Ironie, mit der die Theaterszene des 18. Jahrhunderts die Geschehnisse und die Schicksalsschläge des emotionalen Lebens beschrieben wird, schmälert um nichts die Rigorosität des analytischen Ansatzes sondern verleiht der narrativen Anlage des Bandes einen angenehmen und ausbalancierten Ton. Der Beitrag, den das Buch von Plebani zur Erforschung der Geschichte der Gefühle leistet, ist daher vielfältig und bedeutsam, obwohl die Autorin, aufgrund der Auswahl an betrachteten Quellen, das Bild einer venezianischen Gefühlskultur bietet, die ausschließlich auf heterosexuelle affektive Beziehungen einerseits und auf deren Institutionalisierung in der Ehe andererseits gestützt war. Trotz der nur kurzen Andeutungen, die die Autorin hierfür reserviert, erahnt man doch die Existenz von weniger normalisierenden und institutionalisierten Kulturen und Praktiken der Gefühle in der Lagune, die vielleicht durch neue Forschungen erhellt werden könnten.