Annali dell'Istituto storico italo-germanico | Jahrbuch des italienisch-deutschen historischen Instituts

38, 2012/2

Angelo Torre

Luoghi

Review by: Katia Occhi

Authors: Angelo Torre
Title: Luoghi. La produzione di località in età moderna e contemporanea
Place: Roma
Publisher: Donzelli
Year: 2011
ISBN: 978-6036-588-0

Reviewer Katia Occhi - FBK-ISIG

Citation
K. Occhi, review of Angelo Torre, Luoghi. La produzione di località in età moderna e contemporanea, Roma, Donzelli, 2011, in: ARO, 38, 2012, 2, URL https://aro-isig.fbk.eu/issues/2012/2/luoghi-la-produzione-di-localita-in-eta-katia-occhi/

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Seit den 90er Jahren ist in der Geschichtswissenschaft die Sensibilität für die Raumdimension gewachsen. Dies hat die Historiker den historisch und kulturell ausgerichteten Geographen angenähert. Der «spatial turn» gründet darin, dass die Kategorie des Raumes ebenso neu gedacht wurde wie der Begriff der Landschaft – landscape – eine Konzeption des lokalen, sichtbaren Raumes, in dem der Ort – Landschaft – von den Gewohnheiten, Rechten und Körpern entbunden ist. Verschiedene Ansätze haben diese Studien geprägt: ein rhetorischer und ein textanalytischer, ein weiterer, der vor allem an der paradigmatischen und prozessualen Dimension interessiert ist, und ein dritter, in dem das Interesse für die «Nutzung des Raumes» vorherrscht. Das Buch von Angelo Torre knüpft hingegen an die Thesen von Arjun Appadurai (1995) zur «Schaffung von Räumen» an, die als «objektiv grundlegende Dimension des menschlichen und des sozialen Lebens» und als sowohl kulturelle wie auch soziale permanente Konstruktion seiner Bewohner gesehen wird.

Das Buch beginnt mit einem interessanten methodologischen Vorwort zur Quellenanalyse, in dem der Autor die Notwendigkeit hervorhebt, Quellen nicht als Abbilder der Realität zu analysieren, sondern vielmehr als Versuche, diese zu interpretieren (S. 5-15). Es folgt eine Überlegung dazu, dass es wichtig ist, die Parteilichkeit der produzierenden Institutionen zu verstehen und das Dokument in der Analyse vor dem Hintergrund seines Entstehungskontextes zu werten, mit den Dynamiken der «Transkription», wie es uns A. Petrucci gelehrt hat (2007). Dadurch denkt man die Rolle der sozialen Akteure, der Produzenten von Quellen und die ihrer Interpreten, der Historiker, neu. Diese können durch eine Haltung des «kritischen Empirismus» soziale und kulturelle Praktiken aufzeigen, die gemeinsam mit den historischen Rekonstruktionen unter der administrativen Kontrolle des 19. und 20. Jahrhunderts gänzlich verschwunden sind. Der Autor distanziert sich von jener Forschungsrichtung, die sich auf die Idee des «Feldes» gründet. Seiner Ansicht nach ist diese nicht imstande, die untersuchte Praktik automatisch zu identifizieren, die als Mischung von Jurisdiktion und einer Besitzkultur erscheint. Der Autor greift hingegen auf die Idee der «Stätte» zurück, also die einer topographischen Analyseskala, in der das Detail und die Diskontinuität im lokalen Raum größere Bedeutung erlangen.

In einer Rezension können nur einige der vielen aufgeworfenen Fragen verdeutlicht werden. Sie betreffen Themen der Rechtsgeschichte, der sozialen Ökologie, Überlegungen zur Folklore, Problematiken der Erinnerung und des Vergessens, die Entstehung der Landschulen, die Auflösung der Allmende und Trugbilder eines Hochgebirgstourismus . Im Zentrum stehen Instanzen, die Menschen verbinden, sowie familiäre und nachbarschaftliche Mikrogruppen. Sie werden im konkreten Vollzug ihrer Aktivitäten analysiert, betreffen sie das Reisen, seien sie geldlich, produzierend, politisch oder rituell. Sie werden anhand von Straffällen in Norditalien im zeitlichen Rahmen vom 16. Jahrhundert bis heute untersucht. Der Kern der Studie ist die Analyse von Ereignissen, bei denen die Vermittlung des Raumes eine Rolle spielt: verschiedene Versuche, Beziehungen und Rechte neu zuzuschneiden – Orte der insgesamt unsteten und fragilen interpersonellen Beziehungen. Es handelt sich um einen feingliedrigen, manchmal kaum merklichen Prozess der Schaffung von Räumen und Orten.

Sehen wir uns nun einige Fallstudien genauer an. Das erste Kapitel beschäftigt sich mit den sozialen Prozessen der Schaffung von Orten und mit dem Ritual des karitativen Handelns, welches von einigen Bruderschaften geschaffen wurde, die im Sesiatal der triandrischen Trinität und dem Heiligen Geist geweiht waren. Die Rekonstruktion der Symbologie des konziliaren Zeitalters in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts erlaubt es, dieses devotionelle Handeln mit den Praktiken der Konstitution sozialer Körper von unten heraus zu verbinden, die dadurch charakterisiert sind, dass die Ressourcen zeremoniell allgemein zugänglich gemacht werden, etwa beim gemeinsamen Mahl und der Verteilung von Nahrungsmitteln.

Ein Argument, das der Autor schon zuvor in einem Aufsatz präsentiert hat («Quaderni storici», XLII, 2007), ist Thema des zweiten Kapitels, das mit dem Wunder der blutenden Hostie von Asti des Jahres 1718 befasst ist. Die Episode verdeutlicht den Aspekt des «Verhandelns von Raum», ebenso wie die Mechanismen, die einen heiligen Raum hervorbringen, um ihm Immunität zu verleihen. Es ist dies eine Strategie, ihn der Autorität und Jurisdiktion des Herrschers vermittels einer effizienten Repräsentation des Heiligen zu entziehen.

Ein dritter «Produktionsprozess» wird in dem folgenden Kapitel rekonstruiert, das sich mit den Konflikten zwischen den verschiedenen Siedlungen der Langhe beschäftigt. Die Analyse der ebenso theologischen wie juristischen Dokumentation erlaubt dem Autor, die Immunität als Ergebnis lokaler Transaktionen zu interpretieren, die erst später von der herrscherlichen Autorität legitimiert werden, und sie als Instrumente zu sehen, mit denen auf lokaler Ebene Konflikte und Machtbeziehungen legitimiert werden.

Der zweite Teil des Buchs ist den «Praktiken der Fragmentierung» gewidmet. Ihre Analyse zeigt ein bisher kaum bekanntes Bild der ländlichen Welt im Ancien Regime. Das vierte Kapitel über den Austausch im Alpenvorland zeigt gut auf, wie die Überwindung des Paradigmas «Zentrum-Peripherie» zugunsten einer «Mannigfaltigkeit aktiver Orte» sich als wertvoll erweisen kann, um kleinere Austauschprozesse und Knotenpunkte besser zu fassen, die ein Gebiet entlang einer Straße prägen, in dem der Fernhandel auf den fortbestehenden kleineren Lokalhandel und von dessen verschiedenen Vernetzungen profitieren konnte. Die Komplexität wird durch eine Vielzahl von Dokumenten sichtbar: Gerichtsakten, Appellationen und Bittschriften, «Gerichtsmemoriale».

Das fünfte Kapitel rekonstruiert die juristischen Praktiken, die in einer Gesellschaft mit starker jahreszeitlich bedingter Migration vorherrschten: Man griff dort auf eine Schnellgerichtsbarkeit ohne Formalitäten zurück. Die Institutionen des «kurzen Prozesses» und des Schiedsspruchverfahrens entsprechen den Bedürfnissen der Menschen, sich gegen opportunistische Verhaltensweisen abzusichern und die Transaktionskosten gering zu halten. Daher erscheinen sie als die am besten geeigneten Instrumente für die Kreditstruktur des Sesiatals mit seiner Gesellschaft, die auf starke Institutionen der Nachbarschaft gegründet ist, wie es auch aus anderen Migrationskontexten hervorgeht (Fontaine, 1993, 1997).

Das Ritual der «Rama dell’Abbà», einer rituellen Beschneidung der Wälder, auf das im achten Kapitel eingegangen wird, bringt einen Prozess der Definition des juristischen Status des Landes im Piemont in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zur Geltung. Die Umwandlung der Wälder von Feudal- in Allodialbesitz (und folglich ihre Besteuerung) ist geprägt von der Einschrän- kung und der Veränderung der Nutzung durch die Bevölkerung. Der Brauch des Sammelns von Kastanien- und Eichenschößlingen wird so zu «Folklore» und einem erstarrten Ritual, abgetrennt von der Gewohnheit und dem Recht.

Die Lokalitäten ins Zentrum der Untersuchung zu stellen und die Praxen zu untersuchen, mit denen sie als juristische Einheiten, also als Sitz und Ausdruck von konkreten Rechten auf bestimmte Ressourcen, in kulturelle Räume umgewandelt wurden, in denen die Handlungen einen zeremoniellen Charakter ohne Substanz annehmen – diese Herangehensweise hat Angelo Torre gewählt, um dem erneuerten Interesse an den lokalen Phänomenen entgegenzukommen, das in den letzten Jahren die Aufmerksamkeit der Medien und scientific community auf sich gezogen haben. Das Interesse richtet sich nicht so sehr auf die Gemeinschaft an sich, sondern auf sie als Antithese zur Globalisierung. Man hat sie als mythischen und teilweise banalen Kontrapunkt zur Modernität analysiert, oder gar als von der realen Gesellschaft gänzlich gelöste vorgestellte Gemeinschaft. Solche Untersuchungen haben sich mit Diskursen befasst, ohne dabei die Realität zu analysieren, auf die sich die lokale Sprache stützt, ferner ohne in gebührender Weise die historische Grundlage der Orte in Rechung zu stellen. In vorliegendem Buch wird dies hingegen mit Bravour eingelöst. Es ist reich an Denkanstößen und methodologischer Gewandtheit für denjenigen, der sich mit verschiedensten Aspekten der Geschichte Italiens vom Spätmittelalter bis in die Gegenwart befasst.

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