Reviewer Giovanni Bernardini - FBK-ISIG e European University Institute
CitationSeit einiger Zeit diskutieren Historiker und Geschichtstheoretiker darüber, welche die besten Darstellungsmöglichkeiten dafür seien, um ihre Leserschaft über den beschränkten Kreis kompetenter Spezialisten hinaus zu weiten. In diesem Zusammenhang hat sich die historiographische Debatte lange auf die Auswahl jener Texte konzentriert, welche Ereignisse und Prozesse der Vergangenheit in realistischer Weise zu repräsentieren vermögen; darauf, ihre Bedeutung verstehbar zu machen, und zwar vermittels der Ausdrucksform der Metapher bzw. durch Inbezugsetzung zur Gegenwart. Angesichts eines vermeintlichen Schwindens des Interesses an der professionellen und akademischen geschichtswissenschaftlichen Textproduktion ist es legitim zu fragen, ob jene Form der Historiographie sich nicht als «ungeeignet [erwiesen hat], das offenbare Bedürfnis der aktuellen Kultur auf der Welt zu befriedigen, einen emotionellen Kontakt mit der Vergangenheit zu finden» [1]. Philologische und chronologische Gründlichkeit, die mehr oder weniger formalisierte Einhaltung wissenschaftlicher Normen, die Prüfung durch die Geschichtswissenschaftler, dies sind unverzichtbare Prozesse, um den wissenschaftlichen Wert einer Arbeit zu gewichten; sie sind jedoch für sich genommen nicht ausreichend, um dem weiteren Leserkreis ein Gefühl von Verbundenheit mit der Vergangenheit zu geben. Dieser hat hingegen letztlich intensivere Aufmerksamkeit für jene historischen Rekonstruktionen aufgebracht, welche auf Erinnerungsorte, Gedächtnisveranstaltungen oder kollektive Traumata abzielen: im Kern also auf jene Erzählungen, welche die Distanz zur Vergangenheit auslöschen, indem sie metonymisch verfahren, bzw. von der Berührbarkeit eines Fragments ausgehen, welches in unserer Sichtweite ist.
Oder in Hörweite – so scheint es Stefano Pivato in seinem neuen Buch von Beginn an auf den Punkt bringen zu wollen. Natürlich benennt der Autor den Wunsch, sich in eine Debatte über Geräusche und Lärm in der Gegenwart einbringen zu wollen, welche seit einiger Zeit unter den Historikern (insbesondere transatlantisch) geführt wird; auf der anderen Seite fällt die Kontinuität mit den vorigen Publikationen des Autors zu den politischen Liedern und der Unterhaltungsmusik in der Geschichte Italiens auf. Dennoch gewinnt das Unterfangen auch und vor allem durch die Erfahrung Bedeutung, dass permanente Geräusche heutzutage ein Teil unserer Lautlandschaften sind: ein Anteil, der uns nicht selten (als Lärm) stört, manchmal auch fasziniert, an den wir jedenfalls nunmehr gewöhnt sind. Die historische Arbeit Pivatos geht also von den hörbaren Indizien der Gegenwart aus, um so in der Geräuschkulisse ein ausdrucksstarkes Signum einer «anthropologischen Veränderung» aufzuzeigen, welche sich im Lauf des 20. Jahrhunderts ereignet habe. Die reichhaltige Pluralität der analysierten Quellen (journalistische Schriften, Romane, Gedichte, Gerichtsakten, private Tagebücher) wird in den Händen des Autors zu den Elementen einer Zeitreise, die mit dem Zweck unternommen wird, den Leser zu überzeugen, dass er jene Grund-Stille, die über Jahrhunderte die menschliche Existenz begleitet hat, heute «ohrenbetäubend» finden würde. Es ist zu einfach, den zeitlichen Scheidepunkt in der industriellen und technologischen Revolution und in der Dichotomie Stadt/Land zu sehen: Pivato scheint weniger interessiert daran zu sein, die Geburtsstunde «unserer» Geräuschkulisse durch chronologisch exakte Schematisierungen ausfindig zu machen, als vielmehr daran, die der langen Entstehung der gegenwärtigen Welt inhärenten Genealogien aufzuzeigen. So etwa am Beispiel der Geräusche am Strand. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wandelt dieser sich von der Verlängerung des bürgerlichen Wohnzimmers (mit den gedämpften Tönen der Konversation, die indiskreten Zuhörern vorbeugen soll) zum erwählten Urlaubsort der Massen, die ganz andere Dezibel-Höhen mitbringen, sowohl was menschliche Beziehungen als auch was den Zeitvertreib angeht. Eine ähnliche Entwicklung brachte die zunehmende Einbeziehung der Volksmenge in die sportlichen Wettkämpfe, als Protagonisten oder als Unterstützer der gegnerischen Teams, begleitet von einem aufbrandenden Getöse, das für manche zur bedrohlichen Allegorie eines heraufziehenden Sozialismus wird. Der Geräuschpegel wird mithin schnell ein Distinktionskriterium der Klassen: Einerseits ist das gesamte Leben des «Volkes» von Lärm umhüllt, sei es auf der Arbeit oder in der Freizeit, andererseits wird fern vom Lärm zu sein ein Luxus, den sich nur die Höhergestellten erlauben können; bis dann allerdings, an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, Bürgertum und Proletariat in der Ansicht zusammenfinden, dass wo es laut ist, der Fortschritt stattfindet. Integrative Allegorie dessen ist die Lokomotive, erst später das Auto. Gleichzeitig machen die Literaten, und nicht nur sie, die Lautstärke zum Vorboten der Zukunft. Mit ihr sei eine Sprache neu zu formen, die sie nunmehr als ungeeignet ansehen, die Gegenwart wiederzugeben; aber wenn dies bei den futuristischen Dichtern gleichbedeutend mit unmittelbarer und provokanter Onomatopoie wird, so geht Pivato mit Recht auf die unglaubliche Geschichte am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts von Luigi Russolo und seiner «geräuscherzeugenden Schachtel» ein, eine Apparatur, die dafür gebaut ist, die «uralten und überkommenen» Schemen der Symphonie durch die harmonische Kombination der Geräusche aufzubrechen, die von der Moderne erzeugt werden. Der Künstler ergreift aufs Neue Besitz von ihr, indem er die Geräusche in die Form eines Pentagramms zwängt.
Besondere Erwähnung verdient das Kapitel, welches die Politik als «Metapher des Lärms» behandelt und mit dem geistreichen Kommentar zu den hochaktuellen Polemiken eingeleitet wird, welche zu dem nächtlichen Glockenläuten auf dem Land in den Orten der Sommerfrische geführt wurden, das den Stille Suchenden unangenehm ist. Heutzutage ist das natürlich ein säkularisierter Streit, aber er dient Pivato dazu, in Erinnerung zu rufen, welche symbolische Bedeutung das Glockenläuten während der Französischen Revolution, und später in napoleonischer Zeit hatte: zwischen Widerstandsbekundung religiöser und dem Geltungsstreben der laikalen bürgerlichen Macht. Schließlich erinnert der Autor auch an die Heroisierung der italienischen Provinz im 20. Jahrhundert, ein Verweis, der nicht fehlen konnte. Er geht mithin auf die gegenseitigen vorsätzlichen Störungen von Kundgebungen zwischen der antiklerikalen (und bald sozialistischen oder kommunistischen) piazza und dem campanile des Klerus und später der Democrazia Cristiana ein. Doch neben vielen Kuriositäten fehlen keineswegs anregende Überlegungen darüber, wie die Medien dank der anwachsenden Menge des erreichbaren Publikums dazu beigetragen haben, Formen, und letztendlich auch Inhalte der politischen Kommunikation zu verändern.
Kurz, aber intensiv ist die anschließende Reflexion über das Tönen des modernen Krieges, der, beginnend mit dem Konflikt von 1914-1918, eine wahrhafte «mentale Revolution» bei den Massen erzeugte, die an den Stahlgewittern teilhatten. Ein Getöse, das die Unterwerfung des biologischen Elements unter das technische anzeigte und zudem eine Hauptursache jener Pathologien wurde (Schizophrenie, Nervenkrankheiten), deren Opfer diese Generation wurde. Als enthusiastische Utopie gedacht, zeigte der Schlachtenlärm, gesungen von unsicheren Kantonisten, den beteiligten Menschenmengen die hässlichste und destruktivste Fratze der Modernität, symbolisiert vom ohrenbetäubenden Dröhnen der Bombardierungen der Städte und ihrer Bewohner – naturalistische Metaphern (wie das Gewitter) hätten nicht die angemessene evokative Kraft gehabt, dies zu beschreiben.
Eine Schwäche des Bandes besteht vielleicht in der übertriebenen Kürze des letzten Teils, der den Geräuschen der Nachkriegszeit gewidmet ist. Vom Lärm des «Überholens», zweideutiges Symbol des durch den Film (Il sorpasso, deutscher Titel: Verliebt in scharfe Kurven) von Risi verewigten ökonomischen Booms, über die durch die Ölkrise erzeugte unbehagliche Stille der 70er Jahre, bis hin zum neuerlichen Summen der Handys und der Computerrevolution. Eben dieser Erzählung hätte mehr Raum und Komplexität gegeben werden können.
Dennoch kann der Band begeistern, sicher auch ein nicht-professionelles Publikum, welches daran interessiert ist, der Geschichte eines Elements nachzuspüren, das in der heutigen Lebenswelt alles andere als sekundär ist. Dieses Interesse vermag ein Werk wie jenes von Pivato – zumindest teilweise – zu stillen, ohne dabei zugunsten des legitimen Unterhaltungswunsches die Ernsthaftigkeit oder Gründlichkeit vermissen zu lassen. Am Ende ist aus der Lektüre auch die Erkenntnis zu gewinnen, dass Historiographie mehr denn je dem Allgemeinwohl zukommt.
[1] Vgl. E. Tortarolo, Metafora e metonimia nella storia: qualche riflessione pratica, in «Acropoli», Januar 2008.