Reviewer Émilie Delivré
CitationIn einer brillant geschriebenen Monografie, die pünktlich zum 150. Geburtstag der italienischen Einheit von Laterza herausgegeben worden ist, hat Alberto M. Banti, Professor an der Universität Pisa, den italienischen Nationsdiskurs re- konstruiert. Hauptargument des Autors ist, dass drei Leitfiguren diesen Diskurs vom Risorgimento bis zum Faschismus strukturieren. In anderen Worten: die Samen des aggressiven Nationaldiskurses eines Mussolini keimen schon im Risorgimento, und es gibt nichts wirklich Neues in den 30er ahren des 20. Jahrhunderts, das nicht schon im 19. von den Hauptaktoren geäußert worden ist. Bantis Interesse für die rhetorische Konstruktion der italienischen Nation ist älter als diese Monografie. Schon im Jahr 2000 hatte er eine vielgelobte Studie zum Ursprung des vereinigten Italien, die auch auf die Kommunikation fokussierte (La nazione del Risorgimento), verfasst. Dort hatte er eine Reihe von Gedichtbänden, geschichtlicher Abhandlungen, Literatur und Essays, die zur Zeit des Risorgimento das Thema der italienischen Nation behandelten, analysiert und herausgefunden, dass sie ähnliche rhetorische Figuren und Begriffe übernahmen, ganz egal welcher politischen Couleur ihre Autoren waren: er nannte es «elementare Morphologie des nationalen Diskurses». In Sublime Madre Nostra übernimmt er diese Perspektive wieder: die These dreht sich um die Existenz einer rhetorischen Struktur, die für den italienischen Nationsdiskurs grundlegenden sei, eine «morphologische Essenz», eine «morphologische Matrix», «morphologische Struktur», und eine «morphologische Kontinuität». Diese tiefe Struktur wird von unserem Autor mit Hilfe dreier «mythographischer» Leitfiguren entlarvt, die schon in La nazione del Risorgimento auftraten, und zwar: (a) Die Nation als Familie, Abstammung; (b) Die Nation als eine Opfergemeinschaft; (c) Die Nation als eine gendered Gemeinde (S. VII). Die drei Figuren werden dann in vier Kapiteln entfaltet, die die Chronologie von der Geburt Italiens bis zum Ende des Faschismus verfolgen, und der Autor zeigt dabei, wie erfolgreich sie blieben. Diese extreme Performativität erklärt er durch die gefühlsgeladene Rhetorik der Intellektuellen (S. 9), die die breiten analphabetischen und bis jetzt aus der Sphäre der Politik ausgeschlossenen Massen erreichen wollte, sowie durch die breite Diffusion bei den Medien. Im 1. Kapitel, La nazione del Risorgimento, erklärt Banti wie – sei es durch Imitation, sei es als Reaktion auf die französischen Ereignisse – der vereinigte italienische Staat bald als notwendiger Ausdruck einer einzigen italienischen nationalen Gemeinschaft gesehen wird, die in kohärenten Institutionen vertreten werden sollte (S. 3). Dies ist umso überraschender, da die für die italienische Nation als unerlässlich erachtete italienische Sprache nur von einer sehr kleinen Minderheit sogenannter «Italiener» gesprochen und verstanden wurde, die kaum die Möglichkeit hatte, die «Urliteratur» des italienischen Volkes zu lesen und zu verstehen: weniger als 10% der Bevölkerung sprach Anfang des 19. Jahrhunderts Italienisch. Deshalb betont Banti mehrmals die Kontingenz von dem, was zwischen 1815 und 1861 stattfand, nämlich die progressive Legitimierung des nationalen Lexikons und der Mythen auf solch einer mürben Basis. Unter anderem zeigt er, wie die vereinigte Nation, die sich den Zeitgenossen zuerst als politische Möglichkeit darstellte, schon bald von ihnen als natürlich und naturgegeben präsentiert wird. Nationalistische und xenophobe Reaktionen weisen nach Banti schon lange vor der Geburt der italienischen Nation darauf hin, wie man die Performativität der Nationsmythographie an der politischen Realität messen sollte. Geschickt dekonstruiert er das, was er Para-Religion nennt, mit ihren «nationalen Heiligen», die die Funktion eines Spiegels für die «Gläubigen» übernehmen und die als Statuen auf öffentlichen Plätzen garantieren, dass der semiotische Zirkel auch nach ihrem Tod weiterfunktioniert. Schließlich fokussiert er auf die leitenden Figuren der generationalen Ansprüche des Nationsdiskurses, nämlich Onore und Virtù. Im 2. Kapitel, Amor di Patria (S. 52) geht es zuerst um die neue italienische Staatsangehörigkeit, die zwischen dem Ius sanguinis (als Fundamentalkriterium) und dem ius soli pendelt. In dem Debüt der italienischen Einheit wird ein semantisches Feld der Gefühle von den Autoren des Risorgimento entwickelt, das bald biopolitische Beiklänge annimmt. Die martyriologische Mystik geht bis in die Schulen hinein und soll dabei eine Gedächtnisgemeinschaft bilden («Cuore», De Amicis). Die Frauen werden als zukünftige Mater Dolorosa erzogen, bereit ihre Emotionen zu disziplinieren und ihre Söhne fürs Vaterland zu opfern. Im martyriologischen Diskurs gibt es kaum blutige Verletzungen, nur schnelle und heroische Todesarten, denen man dann auf Altären und in Zeremonien gedenken kann. Im 3. Kapitel, La consacrazione degli eroi (S. 94) verfolgt der Autor die chronologische Linie weiter bis zum ersten Weltkrieg. Hier lernen wir Gino kennen, einen Sohn der italienischen Bourgeoisie: zuerst an der Front mit den Arditi (Stoßtruppen), dann kämpft er in Libyen, geht mit D’Annunzio nach Fiume, und tritt schließlich dem Faschismus bei (S. 96). Möglich wird diese Biographie dank des extrem effizienten diskursiven Nationsmodells, das sogar aus den privaten Tagebüchern und Briefen der Soldaten der Grande Guerra spricht (über mehr als 20 zu lange Seiten zitiert Banti aus Momenti della vita di guerra von Omodeo, weniger hätten es auch getan). Vor allem im Fall des libyschen Krieges, wo die «Zivilisierten» gegen die «Barbaren» kämpfen, stützen sich christlicher missionarischer Diskurs und Nationsdiskurs aufeinander (S. 124). Die Figur des Martyriums im öffentlichen Raum wird erneut verwendet, wie z.B. bei der Erstellung des Grabmals des unbekannten Soldaten (S. 137). Im letzten Kapitel, Sangue e Suolo (S. 146), beschreibt Banti was man die Apotheose der master narrative der Nation nennen könnte. Wieder zu Hause fühlen die Soldaten Unbehagen an der italienischen Realität. Der Faschismus übernimmt deshalb die diskursive Tradition der Nation als regenerative Macht (S. 155), in die Richtung aber einer Stärkung ihrer biopolitischen Grenzen. Der Autor verfolgt die Entwicklung der Rassengesetze und zeigt inwiefern die grandiosen faschistischen Rituale und Monumente, die immer wieder das Martyrium preisen, die Verehrung der Frauen als Mütter der Märtyrer, die Zentralfigur der Genealogie und des Blutes im faschistischen Imaginären, die Union zwischen Faschismus und Katholizismus, nichts anderes als eine weitere Entwicklung des Nationsdiskursen des Risorgimento sind. Zum Schluss ergreift der Autor die Gelegenheit, den bis heute gebräuchlichen Rückgriff von Politikern auf den Nationsdiskurs (Denkmäker usw.) zu kritisieren. Wie anfangs schon gesagt, ist Bantis Buch sehr angenehm zu lesen. Der Verlag wollte offensichtlich das Denken Bantis zugänglicher machen und dies ist auch hinreichend gelungen. Nun, auch wenn solch ein Unternehmen der Verbreitung historischen Denkens immer willkommen ist (vor allem wenn es um die Historisierung des Nationalismus geht), bedeutet das freilich nicht, das Publikum für unfähig zu halten, komplexere Gedankengänge zu schätzen. Tatsächlich fehlen in Bantis Monografie besonders zwei Perspektiven: eine erste Kritik fokussiert auf Bantis Anspruch (der an die große Tradition des Strukturalismus anknüpft), die «wahre», «tiefe» Matrix des Nationsdiskurs offenzulegen. Bisweilen ist er so überzeugend, dass man sich fragen könnte, ob es überhaupt konkurrierende Diskurse geben konnte? Zweitens, auch wenn Banti in seiner Einleitung schreibt, die Nation sei nicht naturgegeben sondern errungen, was ein Echo der Einleitung von Anne-Marie Thiesse in ihrer Monographie La création des identités nationales ist, lässt er unbeachtet, was sie hinzufügte: nämlich, dass nichts internationaler ist, als die Formierung der nationalen Identitäten. Der Leser hat beim Lesen von Bantis Buch häufig den Eindruck, es handele sich nur um einen italienischen Prozess. Es wäre nicht einmal notwendig gewesen, die umfassende internationale Literatur zur Nation zu zitieren, es hätte genügt zu sagen, dass es sie gibt!