Reviewer Gabriele D’Ottavio
CitationDie Historiker des Kalten Krieges litten lange an einer Art «Ursprungs-Obsession». Bekannt ist dabei die Bedeutung der Kontroverse zwischen «Orthodoxen» und «Revisionisten» in der historischen Debatte: Erstere schreiben die Verantwortung für den Ausbruch des Kalten Krieges in erster Linie Stalin und der Sowjetunion zu, während letztere vielmehr im Einsatz der ersten Atombombe, in der Truman-Doktrin und im Marshall-Plan die Ursachen für den bipolaren Antagonismus sehen. Einige spätere Versuche zu einer Synthese zu gelangen, erwisen sich in gewissem Maß ebenfalls von der Tendenz beeinflusst, die jeweilige Verantwortlichkeit der einzelnen Protagonisten abzuwägen, beziehungsweise von der Versuchung festzulegen, wer der wahre «Schuldige» am Ausbruch des Kalten Krieges gewesen sei. Erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde es möglich, die Dichotomie zwischen «Orthodoxen» und «Revisionisten» und damit auch den «schuldverfechtenden» und «beschuldigenden» Ansatz zu überwinden. Zu den Grundbedingungen für die Überwindung dieser interpretativen Polarisierung gehören: Erstens, eine größere Distanz zu den historisch-politischen Umständen, in welchen diese Thesen formuliert worden waren; zweitens, eine tiefgreifendere und ausgewogenere Kenntnis sowohl des amerikanischen als auch des sowjetischen Quellenmaterials; drittens, eine bedeutende Veränderung der analytischen Perspektive, die nicht länger nur an der Frage nach dem «Wer» und dem «Warum» interessiert war, sondern vor allem auch zu verstehen suchte, «was» der Kalte Krieg in Wirklichkeit und in der Wahrnehmung seinen Protagonisten bedeutet hat. Es ist dieser Zusammenhang, in den sich das Buch von Federico Romero Storia della guerra fredda (Einaudi, 2010) einfügt, dessen konzeptionelle Gliederung und Interpretationsvorschlag sich vor allem um die Frage nach der Definition des Kalten Krieges drehen. Von dieser gemeingebräuchlichen Formel, so Romero, könne man nicht absehen, obwohl deren Konzeptionalisierung und Historisierung eine Reihe von schwer lösbaren Problemen aufweise. Was ist ein Kalter Krieg und was ist er folglich nicht? Was sind seine begrifflichen Spezifika und seine räumlich-zeitlichen Begrenzungen? Was sind die Charakteristika seiner evolutiven Dynamik, was seine topischen Momente, seine Zäsuren und Wendungen? Welche Rolle spielte er vor dem Hintergrund der Geschichte der internationalen Beziehungen des 20. Jahrhunderts insgesamt? Romeros Buch ist der Versuch, diese Fragen zu beantworten. Der Autor entwickelt seine Analyse angefangen bei einer präzisen Konzeption dessen, was vom aktuellen Forschungsstand aus als berechtigte Definition des Kalten Krieges erscheint: «Die Geschichte einer grundsätzlichen Alternative zwischen zwei Systemen, eines Wettstreites zwischen zwei Modellen, die in Beziehung auf ihre Ressourcen, Anpassungsfähigkeit und Anziehungskraft höchst ungleich waren», an dessen Ende «sich der Kapitalismus als effizienter, ausdauernder und überzeugender als der Sozialismus erwiesen hatte». In dem von Romero vorgeschlagenen Entwurf lassen sich mindestens vier Analyseebenen erkennen: Die Herausbildung und die Artikulierung der Strategien der beiden Supermächte (erste Ebene), die Entwicklung der Beziehungen innerhalb der Blöcke (zweite Ebene), die Entwicklung lokaler Konflikte am Rande des internationalen Systems und das Aufkommen der sogenannten «Dritten Welt» (dritte Ebene) und schließlich der Globalisierungsprozess (vierte Ebene), verstanden vor allem als technologische und finanzielle Revolution, mit Verweis sowohl auf die Fortschritte der Menschheit als auch auf die Herausforderungen, die sie bedrohen. Von diesem Verständnis und diesem Problemansatz ausgehend, beginnt der Autor seine Rekonstruktion von den «Anfängen» (1944-1949) bis zu dem Punkt, an dem «der Kreis sich schließt» (1981-1990). Er verfährt oft argumentativ; die verschiedenen Faktoren, die den Wandel von der anscheinenden Dauerhaftigkeit des kalten Krieges – verstanden als «absoluter ideologischer Konflikt» und gleichzeitg im weiteren Sinn als «Antagonismus von ungewöhnlicher Heftigkeit aufgrund seiner ideologischer Ausprägung und der Belastung der empfundenen Bedrohung» – bis zu seinem unerwarteten und ganz und gar unvorhergesehenen Ende erklären können, werden relativiert und abgewogen. Romero zeigt die fortdauernde Interaktion zwischen dem Fortbestehen und den Veränderungen, sowie die Übereinstimmungen beziehungsweise die Differenzen zwischen den Tatsachen und den entsprechenden Wahrnehmungen der Protagonisten, ohne aber zu vergessen, dass der Kalte Krieg erstens und vor allem auch ein beachtlicher Katalysator für eng verbundene historische Ereignisse und Prozesse wie die Dekolonisation, das Erscheinen neuer Nationalstaaten auf der Weltbühne, die Demokratisierung und die Globalisierung war, und zweitens, dass Ideen und Politik immer ein menschliches Konstrukt sind.
Von den vielen aufgestellten Thesen ist diejenige, die bereits als Untertitel fungiert und den Kalten Krieg als «letzten Konflikt Europas» interpretiert, die wichtigste und eindrucksvollste. Die These ist weder banal noch selbstverständlich, denn der Autor korrigiert mit ihr einerseits eine eurozentristische Perspektive, die die Umverteilung des weltweiten Gewichts der ehemaligen europäischen Großmächte nach dem Ende des Krieges unverhältnismäßig fokussierte, und andererseits distanziert er sich von einigen jüngeren für die global history typischen Schilderungen des Kalten Krieges, in denen Europa eine eher untergeordnete Rolle spielte. Romero betont hingegen, dass Europa der Hauptschauplatz der langen ideologischen (Macht-)Konfrontation war: Hier begegneten sich die beiden Supermächte zum ersten Mal, weil die Ordnung, die dem soeben aus dem Krieg auferstehenden Kontinent gegeben werden sollte, nicht nur für das regionale Gleichgewicht als grundlegend eingeschätzt wurde, sondern auch wegen ihrer möglichen weltweiten Auswirkungen; die am stärksten militarisierte Grenze des gesamten Ost-West-Konflikts verlief in Europa; der Kalte Krieg erfuhr in Europa eine gewisse Stabilisierung; der politische, ökonomische, soziale und kulturelle Gegensatz zwischen den beiden «Systemen» zeigte sich in Europa in voller Stärke; und schließlich legte dieser Gegensatz die strukturelle und ideelle Fragilität des Kommunismus und die wirtschaftliche Überlegenheit des Westens, seine größere Anpassungsfähigkeit und die Attraktivität seines Ge- sellschaftsmodells in Europa ganz deutlich bloß, bis hin zum transformativen Sog der Globalisierung.
Durch die Wiederentdeckung der europäischen Zentralität vor allem in den ’70er Jahren, als privilegierter Beobachter und als Mitwirkender an den internationalen Beziehungen in der Phase nach dem Zweiten Weltkrieg, gelingt es Romero auch einige ziemlich verbreitere Untersuchungen zum Ende des Kalten Krieges zu revidieren, die im Übrigen jenen besonders personalistischen – bisweilen siegessicheren, bisweilen schuldzuweisenden – Ansatz wiederaufzunehmen scheinen, der die Debatte über die Anfänge geprägt hatte. Der Autor weiss, dass sich der Zusammenbruch der Sowjetunion nicht ohne die Personen, die Politik und die Entscheidungen Reagans und Gorbatschows erklären lässt; doch die Krise verursachten die beiden Staatsmänner seiner Meinung nicht, sondern sie begleiteten sie vielmehr und beschleunigten sie wahrscheinlich. Denn diese Krise war bereits in der Parabel der Entspannung – der «Höhepunkt» und dann der «Untergang» – und damit in der relativ selbständige Neuorganisation des post-imperialen Westeuropa angesichts der Unfähigkeit der Sowjetunion, die Unterschiede ihres Blocks synergetisch zu verwalten, deutlich geworden. In einigen Fällen konzediert der Autor vielleicht seinem Bedürfnis nach einer geradlinigen Interpretation etwas zu viel, und verfällt so hie und da in eine Art retrospektiven Determinismus, aber das ist ein fast unvermeidliches Risiko, wenn man eine Erklärung für komplexe und ineinander verwobene Prozesse sucht.
Mit diesem Buch gelingt Romero das ehrgeizige Unterfangen, eine zeitgemäße, genaue und differenzierte Interpretation zu bieten und darin zahlreiche Untersuchungsperspektiven neu aufzugreifen und zusammenzufügen. Dadurch gelingt es Romero auch, den Kalten Krieg einerseits als historisches Phänomen und andererseits als unverzichtbares Analyseinstrument zu überdenken, um eine ganze Ära zu charakterisieren und neu zu definieren, die zwar inzwischen beendet ist, sich aber unter dem rückwärtsgewandten Blick der Gegenwart weiter verändert.