Reviewer Maurizio Cau - FBK-ISIG
CitationMehr als vierzig Jahre sind vergangen, seit Pierangelo Schiera mit der Veröffentlichung des Buches über den deutschen Kameralismus sowie der Herausgabe der italienischen Ausgaben von Otto Brunners Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte und der Studie von Ernst Wolfgang Böckenförde über die deutsche Verfassungsgeschichte des 19. Jahrhunderts eine der ertragreichsten wissenschaftlichen Unterfangen an der Schnittstelle von italienischer und deutscher Geschichtsschreibung vorgelegt hat. Viele Jahre später sammelt der Autor nun in einem Band (geplant ist die Veröffentlichung zweier weiterer Bände vor) zwölf Aufsätze aus den Jahren 1977 bis 2008, die – wie der Titel andeutet – unterschiedlichen Ausprägungen der Verfassungsgeschichte gewidmet sind.
Kritisch gegenüber einigen Tendenzen der jüngeren Politischen Philosophie richtet der Autor sein Augenmerk auf die Theorie des Gemeinwohls und den Konstitutionalismus, «zwei langlebige, anspruchslose aber aus der europäischen Geschichte nicht wegzudenkende Phänomene» (S. 5). So gesehen bestätigt das Buch eindeutig Schieras methodologischen Ansatz, dessen Interesse immer den Organisationsformen des Vereinswesens in ihrem Zusammenspiel und ihrer jahrhundertealten Abwicklung galt, wie sie den Okzident charakterisiert haben.
Stärke und Reiz dieses Ansatzes liegen in der dynamischen Rekonstruktion des kollektiven Handelns. Wenn der Tribut an das verfassungsgeschichtliche Modell der Brunnerschen Schule auf vorderster Ebene liegt, die ihre Aufmerksamkeit besonders auf den materiellen Befund und das kommunikative Element politischer und sozialer Erfahrung richtet, scheint im Gegenlicht der Lektüre auch der Lehrstoff der «Begriffsgeschichte» durch, die Schiera über die Jahre hinweg nie aus den Augen verlor und auf die er mehrfach zurückgegriffen hat, um eine Verfassungsgeschichte zu entwickeln, die sich auf die Erforschung der Institutionen und der politischen Theorien stützt und sich im ständigen Dialog mit den Sozial- und Staatswissenschaften befindet.
Schiera verfolgt die verschiedenen bekannten Spielarten der Theorie des Gemeinwohls vom Spätmittelalter – einem Zeitalter, in dem das bonum commune die vertragliche Grundlage satzungsgebender bürgerlicher Aktivität war –, bis weit in die Neuzeit hinein – als das Gemeinwohl zum abstrakten Kriterium politischer Rechtfertigung und Instrument zur Legitimierung der staatlichen Formen des Zusammenlebens wurde. Im ständigen Rückgriff auf die Geschichte des bonum commune als Theorie und kommunikatives System mit legitimierendem Hintergrund, schenkt Schiera dem juristischen Element besondere Aufmerksamkeit, in dem das gesamteuropäische Fundament zur Errichtung eines Modell des Zusammenlebens erkannt wurde. Nachdem die philosophischtheologische Phase und die im strengeren Sinne juristische überwunden waren, etablierte sich die Lehre vom Gemeinwohl in der Neuzeit in einer Perspektive politischen Zusammenlebens, aus welcher der moderne Staat in seinen Grundzügen hervorgehen sollte.
Schieras Blick richtet sich dann auf die Polizeiwissenschaft (diejenige von Osses und von Seckendorffs) und allgemein auf das deutsche Modell, das sich auf die Herausbildung einer Technik zur «Handhabung der menschlichen und materiellen Kräfte [orientierte], die auf der staatlichen Gegebenheit gründeten» (S. 62). Während beim Übergang von der Theorie des Gemeinwohls zur «guten Policey» der theoretische Überbau der Legitimation der Guten Herrschaft im Grunde unverändert blieb, kam es im Umfeld der deutschen Naturrechtslehre, welche die Theorie des Gemeinwohls neu formulierte, zu bedeutenden Änderungen; eine Entwicklung, die den Weg für die zunehmende Konstitutionalisierung des bonheur commun ebnen sollte, die sich am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert beobachten lässt. Schiera rekonstruiert insbesondere anhand der Erwägungen Sismondis den Prozess, der zu einer fortschreitenden Einverleibung der Lehre vom Gemeinwohl in die Bewegung des Konstitutionalismus und zur Entstehung des Modells des Rechtsstaates führte, der eine (jetzt auf rechtlicher Grundlage) erneuerte Kulisse für Überlegungen zum Gemeinwohl gewährleistete.
Anhand der Überlegungen von Gustav von Schmoller zeigt Schiera, wie der «ethische» Moment der Reflexion über das Gemeinwohl in der Mitte des 19. Jahrhunderts in die von den Wirtschaftswissenschaften und der Sozialpolitik vorangetriebene Überlegung absorbiert wird. Erst mit der Entwicklung der kirchlichen Soziallehre durch Leo XIII. und Pius XI., welche besonders das Subsidiaritätsprinzip und die Entwicklung einer Korporationstheorie hervorbrachte, bekam das Gemeinwohl wieder eine paradigmatische Bedeutung im öffentlichen Diskurs in Europa, wie die katholische Vorstellung der sozialen Ordnung zeigt, die in der Staatslehre Oswald Nell-Breunings zum Ausdruck gebracht wurde.
Ein zweiter Teil des Buches behandelt die Entwicklung der Ideologien in der westlichen politischen Tradition mit besonderem Augenmerk für die Veränderung der Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft. Große Aufmerksamkeit widmet der Autor der Rolle der Ikonographie als Instrument zur sozialen Konstruktion der Wirklichkeit, also als Mittel der Konsensbildung und der Anwendung von Disziplinierungsmodellen der öffentlichen Meinung.
Einer der wichtigsten Aspekte der theoretischen Konstruktion der modernen Verfassungsgeschichte findet sich in der hobbesschen Lehre, die sich um den «circulus vitiosus der Disziplin» (S. 189) herum definiert, deren Angelpunkte Schiera im «statuierten Recht» und in der Figur des «zivilisierten Bürgers» sieht. Mit seinem Interesse für den Stempel, den Hobbes der modernen und zeitgenössischen Verfassungsgeschichte aufgeprägt hat, liefert der Autor eine Lesart, die Hobbes’ Obsession für die absolute Macht mildert und vielmehr die Rolle der salus populi – verstanden als grundlegendes Gesetz der modernen Politik – in der theoretischen Skizze des englischen Denkers akzentuiert.
Um die weiteren Entwicklungen der politischen Geschichte des modernen Europa und der Strukturen unserer politischen Existenz zu verstehen, weist Schiera auf die Verbindung «Revolution-Verfassung-Staat» hin und widmet dabei genau der Verfassung als echtem «Parameter der Staatlichkeit» und als «Wesensart gemeinschaftlichen Zusammenlebens», die ein politisches Vorhaben voraussetzt, besondere Aufmerksamkeit. Über eine weite und problematisierende Auffassung der Verfassungskategorie gelangt der Autor zur Frage nach dem Wesen der Verfassungsgeschichte: «Das eigentliche Problem ist es, die Schranken des Konstitutionalismus zu definieren. Besser noch, zu definieren, dass Konstitutionalismus Schranken bedeutet und dass den Konstitutionalismus ablehnen wahrscheinlich bedeutet, auch die Idee, das Vorhaben und die Voraussetzung von Schranken selbst abzulehnen» (S. 217).
Die Erweiterung des Blickfelds auf die letzten beiden Jahrhunderte führt zu einer einsichtsvollen Reflexion über den vergangenen und zukünftigen Beitrag von Technik und Wissenschaft zur Regulierung der sozialen Beziehungen und in der Verwaltung der Politik. Beim Verfolgen des Prozesses, der von der ursprünglichen Gleichsetzung von Staat und Verwaltung zur schrittweisen Bestätigung eines Verwaltungsmodells verstanden als «Umsetzung» der Verfassung geführt hat, überdenkt der Autor die neuen Elemente von Staatlichkeit, die sich mit dem 19. Jahrhundert herausbildeten (die liberale Bewegung, die Nation als künstliches Konstrukt mit rechtfertigender Funktion, die Bestätigung der Verfassung als institutionelle Notwendigkeit, die neue Form der konsensbasierten Legitimität).
Es ergibt sich deutlich eine Lesart des Konstitutionalismus als «Mechanismus der Wahrnehmung (Lehre) und Reglementierung (Praxis) des organisierten Zusammenlebens, der im Rahmen der westlichen politischen Tradition, die sich am Gemeinwohl inspiriert, die beiden Faktoren Staat und Gesellschaft zusammenfügen und -halten kann» (S. 245). Der Konstitutionalismus wird also neu gelesen; nicht so sehr als erste Etappe der liberalen Episode, sondern vielmehr als Ergebnis einer dynamischen Entwicklung der traditionellen und revolutionären Modelle, die sich in der langen Erfahrung der politischen Moderne Europas behauptet haben.
Nach Aussage des Autors liefern diese verfassungsgeschichtlichen Abrisse kein vollständiges und einheitliches Bild der westlichen politischen Modernität; es handelt sich um «vorbereitende Skizzen, wie sie ein guter Architekt oder auch ein Maler macht» (S. 8). Freilich lohnt es sich daran zu erinnern, dass bisweilen die vorbereitenden Arbeiten die gleiche expressive Kraft haben wie das vollendete Werk – und das ist hier mit Sicherheit der Fall.