Reviewer Fiammetta Balestracci
CitationDas Thema des von Emma Scaramuzza herausgegebenen Buches, das Verhältnis zwischen Politik, Freundschaft und Liebe, ist in der italienischen historiographischen Debatte relativ neu, wie allgemein die Forschungen zu den Verflechtungen von Geschlechter-, Emotionen- und Gesinnungsgeschichte mit der politischen Geschichte. Es ist jedoch angesichts der drängenden Aktualität des Themas wichtig und interessant, die Ursprünge und die Entwicklung zu kennen. Wie uns die Herausgeberin in der Einleitung des Buches erklärt, welches das Ergebnis einer Forschungstagung ist, die 2006 in Mailand stattfand, wurde das Thema der Freundschaft im Feld des politischen Handelns erstmals in den 80er Jahren von einigen Pionieren der Frauengeschichtsschreibung in das Bewusstsein der Historiker gerückt. Dank der Etablierung der Geschlechtergeschichte auch in Italien und der Anerkennung der Bedeutung von Geschlechterdifferenzen in der politischen Praxis entwickelte es sich im darauffolgenden Jahrzehnt fort. Diese Studien boten die Möglichkeit, die politische Geschichte nicht mehr nur mit der Brille der klassischen, schmittschen Dichotomie von Freund und Feind zu betrachten und über die Bedeutung von Freundschaft und affektiven Beziehungen als wichtigem Faktor politischer Gestaltung nicht nur im Umfeld der Frauen nachzudenken. In diesem Sinne kann es nicht schaden, sofort an das gute Beispiel von Männerfreundschaft zu erinnern, das der Beitrag von Lucio d’Angelo über die Beziehung von Edoardo Giretti mit Luigi Einaudi und Guglielmo Ferrero aufgreift, bei denen zu Beginn des 20. Jahrhunderts ideologisch-politische Ähnlichkeiten Freundschaft und gemeinsame Projekte förderten. Aber wie andere Beiträge zeigen, konnte die Reihenfolge auch andersherum sein, das heißt von der Freundschaft zur Politik. Besonders für die Frauen scheint Freundschaft seit Mitte des 19. Jahrhunderts eine wirklich fundamentale Rolle beim Aufbau politischer Beziehungen zu spielen, sowohl dann wenn sie sich als Ersatz für die Polis darstellt, wenn sich also die Protagonistinnen mit einer «Gegengesellschaft» konfrontiert sehen; als auch dann wenn das Teilen von Werten und Ideen mit Männern oder Frauen, die bereits im öffentlichen Raum stehen, ein unerlässliches Omen für den direkten Einstieg in den politischen Agon werden kann. Das Buch aber, das immerhin vierzehn Beiträge enthält, wirft auch andere Fragen auf, auf die es sich meines Erachtens hinzuweisen lohnt. Die erste, die meiner Meinung nach eine Besonderheit von Geschlecht in der politischen Praxis stark hervorhebt, ist die Durchlässigkeit zwischen öffentlicher und privater Sphäre, die sich mit dem Einstieg der Frau in die Politik schon im Verlauf des 19. Jahrhunderts herausbildete. Seit der Mitte des Jahrhunderts steigerte sich im folgenden die Beteiligung der Frauen am öffentlichen Leben tatsächlich, ganz zu schweigen von einigen Wirren und bedeutenden Ereignissen in der nationalen Politikgeschichte, wie den drei Revolutionsjahren von 1847-1849 und den risorgimentalen Bewegungen. Diese Beteiligung ging nicht nur mit einem zunehmenden gegenseitigen Einfluss von Männern und Frauen im Bereich der Politik einher, sondern zugleich löste sich die Grenze zwischen öffentlichem und privatem Bereich auf, indem sich Politik und Liebe, vita activa und Gesinnungen immer enger miteinander verflochten. Dies zeigt der schöne Beitrag von Fulvio Conti, der – wie der Autor betont – in Teilen auf die Forschung von Simonetta Soldani über die Frauen im Risorgimento zurückgreift. In dieser historischen Phase entsprach die romantische Liebe für viele Männer und Frauen der patriotischen Liebe, das heißt, dass viele Liebesgeschichten auch Geschichten von Heimat waren, an der sie sich auf affektiver Ebene und auf der Ebene geistiger Übereinstimmung nährten. Im Lichte dieser Verflechtung darf es nicht verwundern, dass Giuseppe Mazzini, in seiner Segnung der Hochzeit zweiter bekannter Patrioten der Epoche, dazu einlädt, diese Verbindung nicht als individuellen Schlussakt zu betrachten, sondern als Geste «für die Heimat, für die Menschheit, für das Recht, für die Pflicht, für die Wahrheit, für die Gerechtigkeit». Hingegen verwundert die Analogie dieser Worte mit einigen Ehevorschriften, die bei Hochzeiten formuliert wurden, die im Verlauf der Studentenrevolten von 1968 in Italien gefeiert wurden, und die an die notwendige Beziehung von ehelicher Liebe, sozialer Gerechtigkeit und Gerechtigkeit auf der Welt erinnerten. Sollte also auch die Politik, wie die Literatur und die Kunst, die Vorstellung von Liebe in einigen historischen Momenten geprägt haben? Aber um zum Buch zurückzukehren, nach Urteil vieler Autorinnen und Autoren waren Öffentlichkeit und Privatheit im Verlauf des 19. Jahrhunderts nicht zwei in dem Maße klar voneinander getrennte Lebensbereiche, wie man es noch bis vor kurzem in der historiographischen Forschung zu glauben versucht war. Und sie zeigen es: Die Bedeutung von realer oder vermeintlicher Verwandtschaft für die politischen Erkenntnis von Frauen, an die uns Emma Scaramuzza erinnert, Forscherin der Zeitgeschichte an der Universität von Mailand und Expertin dieser Thematik, indem sie auf einige Genealogien von Frauen verweist, die sich im 19. Jahrhundert im Bereich der Politik oder Bildung betätigten; die Neigung von Frauen, die Politik machten, Kompetenzen im Bereich der Pflege, der Erziehung, der Familie und der Moralisierung der Gesellschaft zu verfeinern, die dann Teil der politischen Agenda wurden; die Rolle der «Salons» im politischen Umfeld Italiens als Ort, wo Zirkel von Männern und Frauen entstanden; das Gewicht einiger großer Liebesbeziehungen in der italienischen Politik, allen voran jene zwischen Filippo Turati und Anna Kuliscioff, die, nach Fulvio Conti, einen «neuen sentimentalen Kurs» markierte, bei dem sich öffentlich und privat überlagerten. Im Allgemeinen, und dies stellt meines Erachtens einen weiteren wichtigen Ansatz des Buches dar, unterstreicht der Sammelband die Bedeutung des beginnenden 20. Jahrhunderts als Moment des Übergangs in der Beziehung zwischen Politik und Freundschaft, sowohl als Beginn des oben genannten «neuen sentimentalen Kurses», sei es als Ende der Abgrenzung der Frauen im Bereich der Politik, die bis dahin gewissermaßen auf philanthropisches Handeln beschränkt wurden, und auch als Beginn des Einsteigens von Frauen in die Institutionen und Parteien, das heißt in das traditionell männliche Feld der Politik. Am Ende des Buches finden sich einige interessante Beiträge von Agostino Giovagnoli über die «Modernistenfreundschaften», von Ferdinando Cordova über die «Freimaurerfreundschaften» am Ende des 19. Jahrhunderts und einige abschließende Überlegungen der Mediävistin Marìa-Milagros Rivera Garretas über die im Wesentlichen politischen Gründe für die Freundschaft zwischen Frauen. Das Buch hinterlässt den Eindruck, dass die Geschichte der Politik in Italien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, und dies gilt nicht nur für die Frauen, ohne die Rekonstruktion der freundschaftlichen und affektiven Netzwerke, welche die Politik nährten und die von ihr genährt wurden, um ein Bild aufzugreifen, das im Buch verwendet wird, nicht verständlich wäre. Und um die Politik zu verstehen, ist es möglich den Begriff der Freundschaft nicht nur im allgemein negativ verstandenen Sinn als System von Allianzen zwischen Cliquen und Klientel derselben politischen Richtung zu gebrauchen, sondern auch im positiven Sinn einer Begegnung auf einem Feld geteilter Werte und Ideen.