Annali dell'Istituto storico italo-germanico | Jahrbuch des italienisch-deutschen historischen Instituts

36-37, 2010-2011/2

Simone Paoli

Il sogno di Erasmo

Review by: Giovanni Bernardini

Authors: Simone Paoli
Title: Il sogno di Erasmo. La questione educativa nel processo di integrazione europea
Place: Milano
Publisher: FrancoAngeli
Year: 2010
ISBN: 978-88-568-2434-6

Reviewer Giovanni Bernardini - FBK-ISIG e European University Institute

Citation
G. Bernardini, review of Simone Paoli, Il sogno di Erasmo. La questione educativa nel processo di integrazione europea, Milano, FrancoAngeli, 2010, in: ARO, 36-37, 2010-2011, 2, URL https://aro-isig.fbk.eu/issues/2010-2011/2/il-sogno-di-erasmo-la-questione-educati-giovanni-bernardini/

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«Wir waren bisher überzeugt, dass Studenten in entfalteten Industriegesellschaften keine politische Rolle spielen». Mit dieser Naivität gestand Jürgen Habermas das Unvorbereitetsein einer ganzen Generation von Intellektuellen angesichts einer Bewegung ein, die schon ein Jahr vor dem entscheidenden 1968 die Schwellen der Universität und die nationalen Grenzen überschritt, um sich in der ganzen «ersten Welt» zu entfalten. Ein Unvorbereitetsein, das sich bald in die Überzeugung wandelte (dies gilt für die junge Bundesrepublik Deutschland, lässt sich aber auf ganz Westeuropa ausdehnen), dass «die Liaison unserer Nachkriegsdemokratie und der Hochschule traditioneller Gestalt zu Ende geht», mit zwei möglichen Ausgängen: Entweder die Produktivität werde zum einzigen Kriterium für die Integration von Ausbildung in die Gesellschaft, oder es ließe sich schließlich eine geeignete Stellung der Ausbildung innerhalb des demokratischen System finden, wobei alle Risiken ihrer zwangsläufigen «Politisierung» in Kauf genommen werden müssten [1].

Freilich konnte der deutsche Soziologe nicht vorhersehen, dass, um die Maßstäbe seiner Überlegung zu ändern, es auf kurze Sicht zur schlimmsten ökonomischen Rezession der Nachkriegszeit kommen würde (summarisch zurückzuführen auf die Ölkrise von 1973), die das Ende der «goldenen dreißig» Jahre des Wohlstands bedeutete, auf die sich der Erfolg der westlichen Nachkriegsdemokratien gründete, und die eben diese dazu zwang, ihre eigenen menschlichen und materiellen Ressourcen im Sinne eines raschen wie notwendigen wirtschaftlichen Aufschwungs zu reorganisieren.

Zwischen diesen beiden Vorgängen liegt der Kern und das wesentliche Moment der eindringlichen und tiefgreifenden Erzählung Simone Paolis in seinem ersten Buch, das die Geschichte des Themas Bildung innerhalb des europäischen Einigungsprozesses behandelt. Anhand einer breiten Quellenbasis (daraus ragen jene aus dem noch wenig bekannten Historischen Archiv der Europäischen Union in Florenz hervor) und einer beneidenswerten Kenntnis fachübergreifender Literatur zum Thema Bildung und Universität, zeichnet Paoli mit Klarheit die Kurve nach, welche die Bildungspolitik aus dem wesentlichen Desinteresse herausführte, das ihr auf den ersten Etappen des kontinentalen Integrationsprozesses begegnete, über ihren schwierigen Eingang in die gemeineuropäische Sphäre, bis sie vollständig als eine der Prioritäten der Europäische Union angenommen wurde. Wie der Autor zeigt, ist der Ausschluss der Bildungspolitik aus den ersten Dossiers auf dem Tisch des Europas der Sechs prinzipiell auf den «Vorbehalt der Souveränität» zurückzuführen, den viele Regierungen in einen Bereich setzten, der eifersüchtig als absolut nationales Vorrecht betrachtet wurde, weil er darauf hinzielte, die künftigen herrschenden Klassen auszubilden (nach nationalen Werten, versteht sich), oder allgemeiner das Bürgertum. Angesichts einer wirtschaftlichen Integration, die am Morgen nach der Katastrophe des Krieges hauptsächlich darauf zielte, dank dieser (Neu-)Legitimierung derselben nationalen Ordnungen breiten materiellen Wohlstand hervorzubringen, erhielt die Bildungspolitik einen sehr eingeschränkten Geltungsbereich lediglich im Sinne professioneller und auf die wirtschaftlichen Bedürfnisse Europas ausgerichteter Ausbildung. Es waren jedoch genau die kontinentalen und weltweiten Umbrüche, auf die zuvor angespielt wurde, welche, wenn auch aus anderen Gründen, die ’70er Jahren zu dem Jahrzehnt machten, in dem die Bildungspolitik aus ihrem Schatten hervortrat. Konfrontiert mit den radikalen Protesten, welche die Grundmauern der meisten europäischen Bildungseinrichtungen erschütterten, «begannen» Politik und selbstverwaltete Institutionen der Universitäten (sogar jene, die bis dahin ihre eigenen Vorrechte am eifersüchtigsten verteidigt hatten, wie die nationale Rektorenkonferenz) «den Nutzen einer wechselseitigen Kooperation im Bereich universitärer Ausbildung sowie die Möglichkeit, die gemeinsamen Organe zu nutzen, um sie effizienter gestalten und leiten zu können, in Betracht zu ziehen». Gleichzeit führten der systemische Charakter der Krise, die Begegnung mit neuen wirtschaftlichen Realitäten, welche die sogenannte «Dritte Welt» hervorbrachte und der relative Niedergang des europäischen Wohlstands die europäischen Regierungen dazu, den wirtschaftlichen und sozialen Nutzen von Bildung im weitesten Sinne zu «entdecken», das heißt als Ausweitung jener allgemeinen Politik einer professioneller Ausbildung.

Schließlich förderte der Einzug sozialdemokratischer Kräfte in die Parlamente vieler europäischer Länder die Vorstellung auf kontinentaler Ebene, dass die Bildungspolitik einen sozialen Zweck haben müsse, dass sie also dazu beitragen müsse, die Ungleichheiten zu bekämpfen und als Integrationswerkzeug zu fungieren (beispielhaft in diesem Sinne waren Projekte auf darauf zielten, Migrantenkindern den Einstieg in die Welt der Bildung zu ebnen).

Rings um diese historische Zäsur enthüllt Paoli vor allem die «hohe» Debatte über Sinn und Ziele der allgemeinen Bildungspolitik, die gemäß Leitlinien geführt wurde, die jenen von Habermas, die eingangs erwähnt wurden, nicht unähnlich sind: Vom Harmonisierungsstreben des Föderalisten Spinelli, bis zur Aufwertung lokaler und nationaler Besonderheiten, wie sie von dem Liberalen Dahrendorf gefordert wurden; von der Idee, sich der Bildung zu bedienen, um neuen Generationen ein europäisches Kulturwissen (und unweigerlich politisches Wissen) zu vermitteln, hin zu der Absicht, die Bildung in den Dienst der Bedürfnisse des einen Marktes und der europäischen Wirtschaftsmacht zu stellen. Mehr noch: Die pointierte Rekonstruktion Paolis zeigt, dass das Thema Bildung ein Dossier darstellte und darstellt, das bis heute ständig neu definiert wird, das permanent auf den Verhandlungstisch kommt, um den sich mit den Jahren eine ja unerwartete Vielzahl von Akteuren unterschiedlicher Interessen Platz gemacht haben. Von gewerkschaftlichen Organisationen bis zu Arbeitgeberverbänden, von den nationalen Rektorenkonferenzen bis zu Versammlungen von Experten und «Technokraten», von der Europäischen Kommission bis zu den Regierungen der einzelnen Länder, von Studentenorganisationen bis zum Europäischen Gerichtshof bis zum Parlament in Straßburg: Sicher liegt eine letzte Stärke des Buches genau in der Sorgfalt, mit der sowohl die Entwicklung und der modus operandi dieser Akteure als auch die selten geradlinigen Strategien, die sie einsetzten, um die von ihnen vertretenen Interessen zu fördern, nachgezeichnet werden. In diesem Sinne verdient die Monographie nicht nur das Interesse eines jeden, der den Wandel der Bildungsfrage ergründen will, sondern allgemeiner eines jeden, der daran interessiert ist, eine detailliere Kenntnis der Verhandlungsdynamiken und der Kräfteverhältnisse zu erlangen, welche der europäische Integrationsprozess durchlief und heute noch durchläuft, weit über die vereinfachten und statischen Versionen hinaus, die das gemeine Standardhandbuch zu häufig vorschlägt.

[1]  J. Habermas, Protestbewegung und Hochschulreform, Frankfurt a.M. 1969.

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