I, 2018/1

Wolfram Siemann

Metternich

Review by: Marc von Knorring

Authors: Wolfram Siemann
Title: Metternich. Stratege und Visionär. Eine Biografie
Place: München
Publisher: C.H. Beck
Year: 2016
ISBN: 9783406683862
URL: link to the title

Reviewer Marc von Knorring - Universität Passau

Citation
M. von Knorring, review of Wolfram Siemann, Metternich. Stratege und Visionär. Eine Biografie, München, C.H. Beck, 2016, in: ARO, I, 2018, 1, URL https://aro-isig.fbk.eu/issues/2018/1/metternich-marc-von-knorring/

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Rund neun Jahrzehnte hat es gedauert, bis ein deutschsprachiger Historiker wieder das Wagnis einer Metternich-Biographie eingegangen ist und damit die hoch umstrittene, nationalsozialistischem Gedankengut wenigstens nahestehende, gleichwohl immer noch wirkmächtige Lebensbeschreibung des großen Staatsmannes aus der Feder Heinrich Ritter von Srbiks (1925) endgültig obsolet gemacht hat. Obwohl vom Duktus her für ein breiteres gebildetes Publikum geschrieben, bewegt sich das vorliegende Werk grundsätzlich auf streng wissenschaftlicher Grundlage, wobei der Verfasser nicht nur die umfängliche Forschung der vergangenen Jahrzehnte rezipiert, sondern reichhaltiges bislang unberücksichtigtes Quellenmaterial ausgewertet und verarbeitet hat. Auf dieser Grundlage bietet Siemann eine vollständige Biographie Metternichs, vom familiären Hintergrund, Kindheit und Jugend bis zum Lebensabend, wobei auch der “private” Mensch in seiner persönlichen, nicht zuletzt intellektuellen Entwicklung, in seiner Beziehung zu Frauen, in seinem Wirken als Grundherr und Unternehmer in den Blick kommt, ebenso wie der Organisator von Politik, Diplomatie und Bürokratie. Aus alledem lassen sich neue Erkenntnisse über den Innen- und (vor allem) Außen- bzw. Europapolitiker Metternich gewinnen, dessen Tätigkeit zwangsläufig im Mittelpunkt der Betrachtung steht.

Der Verfasser wählt nicht den heute zunehmend gebräuchlichen Weg, den Stoff über eine oder mehrere Leitfragen bzw. -thesen einzugrenzen, sondern hat zusammengetragen, was an Zeugnissen zusammenzutragen ist, diese im einzelnen in Orientierung an speziellen Fragen und Thesen der Forschung analysiert und so ein Gesamtbild gezeichnet, soweit es sich eben zeichnen lässt. In diesem Rahmen erscheint Metternich nicht etwa als statische Persönlichkeit wie bei früheren Biographen, sondern als intellektueller Geist, dessen Haltungen und Ansichten sich in der kritischen Auseinandersetzung mit den Zeitläuften erst entwickelten. Überraschend – um nur einige wichtige Ergebnisse herauszugreifen – ist seine Auffassung von der englischen Verfassung als der in Europa allein vorbildlichen, weil sie in einem festem, von den maßgeblichen Schichten getragenen Ordnungsrahmen die freie Entfaltung der Individuen möglich gemacht habe, ohne politische Extreme zu begünstigen. Überhaupt sei die “Freiheit” das höchste Ideal des Staatskanzlers gewesen, so dass er theoretisch auch mit republikanischer Staatsform und demokratischem System habe leben können, wenn diese nur die “Freiheit” gewährleisteten. Die Zukunft des Habsburger Vielnationen- und Vielreligionenstaats habe er, Anti-Absolutist und auf seinen Gütern “liberaler” Ökonom, in einer behutsamen Evolution hin zu mehr Rechtsstaatlichkeit und Mitsprache der Bevölkerung gesehen; er sei bereit gewesen, dafür gegebenenfalls auch Privilegien des Adels preiszugeben. Dabei habe Metternich als Feind des Nationalstaats konföderativ organisierte Verteidigungsgemeinschaften und Schutzbündnisse wie das Heilige Römischen Reich Deutscher Nation und den Deutschen Bund befürwortet.

Nachdenklich macht indessen die Tatsache, dass Siemann als Biograph – wie er mehrfach betont – bewusst aus dem Horizont seiner eigenen Zeit- und Lebenserfahrung herausschreibt, weil andere vor ihm dies auch getan haben und weil es die Standortgebundenheit des Betrachters auch gar nicht anders zulasse. So lobt er ausdrücklich die jüngste These L.M. Migliorinis, Metternich sei in erster Linie “Architekt Europas” gewesen – in dieser Stellungnahme konzentriert sich dann auch das ganze Programm des Verfassers. Er versucht zwar scheinbar, das Postulat der Wertneutralität zu erfüllen, indem er davor warnt, die Zeit des Vormärz – wie heute immer noch üblich – durch die Brille der zeitgenössischen Liberalen zu sehen und der wohlfeilen Dichotomie von Fortschritt und Reaktion auf den Leim zu gehen, bezieht aber lediglich einseitig Position gegen eine Geschichtsschreibung aus so grundiertem “nationalstaatlichen” Blickwinkel; er verzichtet nicht nur auf die Problematisierung möglicher anderer holzschnittartiger Wertungen, sondern möchte dezidiert eine “Aktualisierung” des Metternich-Bildes erreichen, in Abwehr der überkommenen Sichtweise, die eben von der Schaffung des Nationalstaats als höchstem Ziel eines Volkes ausgeht und schon zeitgenössisch wie aus dem Rückblick dementsprechend über die historischen Akteure urteilte – und scheut dabei sogar vor dem Postulat nicht zurück, dass der Nationalstaat heute nicht mehr zeitgemäß, ja das Kriegerische ihm immanent sei!

Die genannten Prämissen führen den Verfasser freilich an anderer Stelle durchaus zu begrüßenswerten, wichtigen Klarstellungen: Die Unterdrückung liberaler Strömungen auf Initiative Metternichs müsse vor dem Hintergrund der Aufgaben und Handlungszwänge der seinerzeitigen Spitzenbeamten bzw. Politiker heraus verstanden werden; auch in Staaten wie Großbritannien oder den USA sei man selbstverständlich gegen “Liberale”, die ihre Ziele durch Drohungen, Mord und Totschlag zu verwirklichen suchten, entsprechend konsequent vorgegangen. Das Bürgertum habe ohnehin vor allem für den eigenen Vorteil gestritten, und schließlich sei Metternich nur einer unter vielen gleichgesinnten Staatsmännern gewesen – und im Vergleich zum Despoten Napoleon ein Waisenknabe.

Das vorliegende Werk ist also alles in allem durchaus mit Gewinn zu lesen, das Gesamtbild Metternichs als eines im Kern keineswegs “antiliberalen” Vorreiters eines modernen, konföderal organisierten Europa ist jedoch zu sehr auf aktuelle Verhältnisse bzw. Wünsche bezogen, um dauerhaft tragfähig zu sein. Freilich sieht der Verfasser sein Werk ausdrücklich nicht als Schlusspunkt der Forschung, sondern als deren Fortsetzung durch den nunmehr notwendigen Ausweis der Perspektive einer nach 1945 geborenen Historikergeneration, mit begrenzter Haltbarkeit. Es wäre schade, wenn Siemanns grundlegende neue Erkenntnisse zum Leben und Wirken Metternichs durch etwaige künftige Schritte in diesem Prozess in den Hintergrund gedrängt würden.

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