Reviewer Fernanda Alfieri - FBK-ISIG
CitationKonstant und essentiell für die Geschichte und das Wesen des frühneuzeitlichen Europas sind die Dynamiken von «Konstruktion, Dekonstruktion und Rekonstruktion von Systemen der Kontrolle über die schriftliche Kommunikation» (S. 11). Im Zentrum der Analysen des vorliegenden Bandes steht nicht so sehr, wie Institutionen der – generell repressiven – Kontrolle des geschriebenen Wortes entstanden sind und sich konsolidierten, als vielmehr wie sich, angesichts eines Systems von bekannter und bedrohlicher Effizienz, Wege zur Durchdringung seiner Maschen entwickelt haben, wie andere Wege gefunden wurden, sich auszudrücken, und schließlich, wie in kurzer Zeit eine Welt von Diskursen und Praktiken endgültig zerbrach, in der die vorbeugende Kontrolle über Texte, die zum Druck bestimmt waren, als unverzichtbar galt; wie also, um wie der Autor in seiner Einleitung mit Max Weber zu sprechen, der Mensch im Verhältnis zu jenem «stahlharten Gehäuse» handelte, welches die rationelle Modernität darstellt und deren Undurchdringlichkeit und Bindekraft er sich nicht mehr entziehen konnte. Die Rolle der Zensur in der Geschichte der modernen westlichen Welt hat vielgestaltige Interpretationen erfahren. Sie referierend, macht der Autor die Komplexität des Problems deutlich: In ihm verbinden sich zentrale Themen wie das der Individualität in ihrem Verhältnis zur Kollektivität, die Rolle des Staates hinsichtlich des Allgemeinwohls, die Auktorialität in Bezug zur literarischen Produktion. Der freudsche Ansatz maß der Zensur eine zentrale Rolle bei: Diese bestimmt nicht nur die Psyche des Individuums und erlaubt ihm – indem sie den präventiven Verzicht auf nicht akzeptierbare Wünsche auferlegt – eine ansonsten unmögliche Sozialisation, sondern sie löst auch, sobald sie von der Ebene der individuellen Psyche auf jene der Politik erhoben wird, die Spannungen auf, macht gemeinschaftliches und kulturelles Leben akzeptierbar und ermöglicht es somit erst. Bourdieu denkt die Zensur als diffuses Element, das nicht von der Handlung einer einzelnen repressiven Autorität ausgeht, und als der Produktion eines wissenschaftlichen Diskurses innewohnend. Foucault sieht in der Moderne eine progressive Entwicklung hin zur Ersetzung erklärtermaßen repressiver Mechanismen durch Mittel der Disziplinierung, die inkludierende – nicht repressive – Kontrolle über das Wissen ausüben. Neben einer «externalistischen» Herangehensweise, welche zwischen Zensur und Schriftproduktion (mit ihren jeweils eigenen Akteuren und Orten) ein antagonistisches Verhältnis sieht, steht die «internalistische», die dazu neigt, die Existenz einer pervasiven Zensur zu sehen, die, losgelöst von historischpolitischen Kontingenzen, unausweichlich innerhalb des Schaffensprozesses eines Textes am Werk ist und am Ende zu einem kreativen Element wird, insofern sie für den Autor ein Paradigma darstellt, an dem er sich orientieren muss, um sein Werk in den Kanon einzufügen. Nach Tortarolo sind beide Paradigmen für sich genommen unzureichend, und ohnehin ist die historische Forschung zur Zensur mittlerweile dabei, dichotomische Ansichten zu überwinden. Der in vorliegender Publikation dargelegte Prozess verweist nicht so sehr auf eine Geburt – eine Dynamik, die fast der Sphäre des Körperlichen, des Unwillkürlichen, des natürlich Notwendigen zuzuschreiben ist –, als vielmehr auf das invenire, das «suchende Finden», das von fest definierten Akteuren gemeinsam praktiziert wird und sich innerhalb diskursiver Vorgaben vollzieht, die alles andere als günstig sind; er verweist auf eine Möglichkeit, oder besser: ein Recht, dass es die Möglichkeit schriftlichen Ausdrucks ohne präventive Kontrolle einer richtenden Autorität gebe. Wie das erste Kapitel zeigt, geschieht es im Jahrhundert der konfessionellen Brüche, dass im Gleichschritt mit der Entwicklung und Verbreitung des Buchdrucks in ganz Europa Systeme der Textzensur entstehen, hervorgebracht von den säkularen Staaten. Obwohl sich schnell Schwächen und Diskrepanzen zwischen der durch sie gesetzten Norm und deren Durchsetzung zeigen, konsolidieren und verwurzeln sich diese Instanzen und Institutionen während des 17. Jahrhunderts in der allgemeinen politischen Vorstellungswelt als unvermeidlich, auch wenn sie Formen annehmen, die von der politischen und philosophischen Debatte abweichen. Beispielhaft sind Hobbes und Spinoza: Sie formulieren entgegen gesetzte Theorien, innerhalb eines Jahrhunderts, das temporäre Niedergänge der Zensursysteme erfährt, denen manches Mal Wiederkünfte in schärferer Form folgen – im Falle Frankreichs der Fronde – manches Mal sind es Vorboten von Epochenwenden, so etwa in England, dem das zweite Kapitel gewidmet ist. Hier verschwindet ein konsolidiertes System der präventiven Zensur am Ende des Jahrhunderts vollends, trotz Spannungen, Gegenschlägen und Versuchen seitens der Institutionen, die freie und engagierte Verbreitung des Buchdrucks einzudämmen, während der letztgenannte zum grundlegenden Element der Schaffung einer vitalen Öffentlichkeit und des politischen Lebens des Landes wird. Frankreich sind die Hauptkapitel des Buches gewidmet. In der Analyse sowohl der Dynamiken innerhalb der Institutionen der Zensur als auch der politisch-philosophischen Reflektionen am Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert zeichnet sich die – vom schnellen Verfall in der Revolutionszeit gefolgte – Austarierung in einem Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Akteuren der Textproduktion (Autoren, Zensierende, Drucker und Buchhändler) ab, das auf den Prinzipien der «funktionalen Ambiguität» (Ambiguität des Zensursystems, das offen für Verhandlungen und Manipulationen durch die Autoren ist) und der «teilhabende Freiheit» (in den Köpfen der Zensierenden, die Freiheit der Autoren ist keine absolute, sondern notwendig von den Institutionen der Zensur abhängig) basiert. Es ist ein System «der Kontrolle und zugleich der Akzeptanz der intellektuellen Innovationen», gegründet auf die «erzwungene Inverantwortungnahme der am Prozess der Buchpublikation Beteiligten» (S. 160), welche im Frankreich des 17. Jahrhunderts artikuliert bestand und unter dem Druck dreier epochemachender Phänomene nachgab: die Ausweitung des Buchmarktes, begleitet vom Scheitern des Versuchs vonseiten des Staates, das Monopol in die Hände weniger Drucker zu legen und den Umlauf von Büchern auf eine gebildete Elite zu beschränken; der starke Eindruck des revolutionären Vorbildes der Vereinigten Staaten, deren Verfassung die Pressefreiheit enthält; und schließlich die sich durchsetzende Idee, dass die öffentliche Meinung (der Autor zitiert Koselleck, «eine moralische Instanz, die das System des Absolutismus von innen heraus aushöhlt», S. 162) als «Gericht» die Funktionen der Apparate präventiver Zensur übernehmen solle. Die Einfügung des Prinzips der Pressefreiheit in die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte garantierte allerdings, «unbeschadet ihrer Antwort auf den Missbrauch dieser Freiheit in vom Gesetz definierten Fällen», nicht eine unproblematische Verbreitung von Ideen durch Druckwerke, und ebenso wenig die Entstehung einer öffentlichen Meinung als einzige normative Autorität. Dies auch, weil keine Kasuistik ausgearbeitet wurde, die durch präventives Festlegen des Missbrauchs «dieser Freiheit», den Autoren einen allgemeingültigen Kodex an die Hand gegeben hätte, an dem sie sich bei der Produktion ihrer Texte hätten orientieren können, und der zusammen mit dem Allgemeinwohl auch die Möglichkeit zu individuellem Ausdruck geschützt hätte.